Hale 1 Piraten der Liebe
Oder wäre ihr besser gedient, wenn sie ihn zum Mann hätte? Anstatt über ihre Gefühle hinwegzukommen, wovon Sir Thomas fest ausgegangen war, schien Cathy noch genauso unglücklich zu sein wie vor vielen Wochen. Wenn überhaupt etwas geschah, dann war es daß sie immer tiefer und tiefer in Depressionen zu verfallen schien. Wenn sie diesen Piraten wirklich liebte, hätte Sir Thomas ihre Wünsche vor seine eigene Karriere gestellt. Aber er war immer noch moralisch davon überzeugt, daß Cathys Gefühle eher eine mädchenhafte Aufwallung waren, die mit der Zeit verschwinden würde. Es brauchte einfach länger, um zu vergessen, als er zunächst angenommen hatte. Außerdem war es jetzt sowieso zu spät, um ihr den Piraten zurückzugeben. Der Mann würde ihr ernsthaften Schaden zufügen, sobald er sie zwischen seinen Händen hielt, nach allem, was ihr Vater über sie erzählt hatte. Sir Thomas beschloß also, daß es das beste für jeden war, wenn die Hinrichtung durchgeführt würde. Wahrscheinlich würde sogar der Pirat den Tod in Anbetracht seiner gegenwärtigen Qualen willkommen heißen.
Der erste Tag des Jahres 1843 zog klar und klirrend kalt herauf. Auf dem Fensterbrett vor Cathys Zimmer türmte sich der Schnee. Die Bewegungen des Kindes in ihrem Bauch hatten sie früher als gewöhnlich geweckt, denn in letzter Zeit hatte sie immer sehr lange geschlafen. Lange Zeit lag sie einfach still im Bett und hatte eine Hand auf ihren Bauch gelegt, während sie beobachtete, wie sich der Himmel von mitternachtsblau in trauriges Grau verwandelte. Es sah so aus, als würde es an diesem Tag noch eine Menge Schnee geben. Cathy schnitt eine Grimasse. Die Trübseligkeit des Tages paßte genau zu ihrer Stimmung.
Das Feuer im Kamin war zu ein paar glühenden Kohleresten heruntergebrannt, und im Zimmer war es eisig. Cathy kroch tiefer unter die dicke Satindecke und wickelte sich eng darin ein, bis nur noch ihre Nasenspitze zu sehen war. Sie spielte mit dem Gedanken, aufzustehen und das Feuer wieder in Gang zu bringen, entschied sich dann aber dagegen: es war einfach zu mühevoll. Martha würde in ein paar Minuten sowieso ihren Kakao bringen, und dann konnte sie das erledigen.
Das Klopfen an ihrer Tür klang sehr förmlich, und Cathy lächelte ahnungsvoll. Martha verhielt sich gewöhnlich weit mehr wie eine Mutter als eine Dienstbotin. Wenn sie aber ausdrücklich an ihren Stand erinnerte, bedeutete das, daß sie schwer beleidigt worden war. Cathy seufzte, weil Martha in diesem Zustand ungefähr genausowenig zu beruhigen war wie ein wütender Bulle. Offensichtlich nahm die alte Frau ihr die Worte von gestern nacht immer noch übel. Gott wußte, daß sie nicht vorgehabt hatte, die Gefühle der Frau zu verletzen, aber sie war einfach schrecklich ungeduldig im Moment. Ihre Persönlichkeit hatte sich in den letzten kurzen Monaten dermaßen verändert, daß sie sich selbst kaum wiedererkannte.
»Herein!« rief sie und hatte sich schon damit abgefunden, den halben Morgen damit zu verbringen, ihre Kinderfrau wieder gnädig zu stimmen.
Martha trat mit einer Würde ein, die selbst der Königin Victoria alle Ehre gemacht hätte.
»Ich bringe Ihren Kakao, Mylady.«
Die konventionelle Form der Begrüßung machte unmißverständlich klar, daß Martha sich ausgenutzt fühlte. Cathy seufzte erneut, denn sie fühlte sich überhaupt nicht danach, in diesem Moment irgend jemanden zu beruhigen. Es war schon eine enorme Anstrengung, sich im Bett zu einer sitzenden Position aufzurichten.
»Bitte, sei nicht böse auf mich«, stöhnte sie, während Martha das Tablett mit dem Kakao und den heißen Croissants auf ihrem Knie absetzte. »Du und mein Vater, ihr seid die einzigen Freunde, die ich noch zu haben scheine. Wenn ihr mich fallen laßt, habe ich niemanden mehr.«
»Wer redet denn hier von >Fallenlassen<, Miß Cathy.« Die Frau antwortete auf Cathys traurige Äußerung genauso wie erwartet. »Es ist nur natürlich, daß Sie jetzt gelegentlich ein wenig übellaunig sind, denn ihr seid beide nicht bei sonderlich guter Gesundheit. Wenn ich sehe, wie Sie sich verändert haben, könnte ich diesen Piraten eigenhändig umbringen. Es ist ein Verbrechen, was er Ihnen angetan hat!«
»Martha, bitte!« schrie Cathy und biß sich auf die Lippen. Jede Erwähnung von Jons Namen war für sie unerträglich schmerzvoll, und es war zur Regel gemacht worden, daß Martha und Sir Thomas dieses Thema sorgfältig vermieden. Obwohl Cathy ihr Bestes getan hatte, um
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