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Halloween

Halloween

Titel: Halloween Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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wir sind nirgends – wie es in dem Lied heißt –, denn wir haben nur ein einziges Leben.
     
    Ginger ist unberechenbar. Sogar im Schlaf hört sie uns durch den Wald kommen, stellt ein Ohr auf, und ihr Auge öffnet sich langsam, die dunkle Membran zieht sich zurück wie eine Jalousie über dem blutunterlaufenen Weiß, und dann bellt sie – so laut, dass Skip wach wird und einstimmt, bevor er überhaupt weiß, was los ist, und dann wird auch Brooks wach und richtet sich ruckartig vom Laken auf wie ein Dracula-Kastenteufel, das liegt an der Ausbildung auf Parris Island (Sir, ja, Sir!).
    «Ruhig!», ruft er, um besser hören zu können, und wir erstarren. Er blickt sich in dem schattigen Zimmer um, sein Kopf leer vom Schlaf. «Ist ja gut», sagt er. «Da ist nichts.» Der Wecker zeigt an, dass ihm bis zum Klingeln noch drei Minuten bleiben – eigentlich zwei Stunden, aber er muss Gram besuchen. Drei Minuten. Er lässt sich mit geschlossenen Augen wieder in die Kissen sinken, zwingt sich dann aufzustehen, und seine Füße tasten nach dem Fußboden. Er muss kurz auf der Bettkante sitzen bleiben, streicht sich übers Gesicht und denkt: Es ist Halloween.
    Er merkt erst, dass es regnet, als er sich rasiert und angezogen hat und die Jalousie zum hinteren Garten hochzieht (und da stehen wir versetzt auf dem Gras wie auf einem schlechten Plattencover). Als er die Hunde rauslässt, umkreisen sie uns bellend, dieOhren zurückgelegt. «Warum benehmt ihr beide euch so komisch?», fragt er, und in dem Moment klingelt das Telefon.
    Er lässt es drei-, viermal klingeln, bevor er den Hörer abnimmt, und sagt dann nichts.
    «Hallo?», fragt eine Frauenstimme – Charity.
    «Hey», sagt er in normalem Ton.
    «Ich hab Sie doch nicht geweckt?»
    «Nein.»
    «Sind Sie bereit? Die Leute haben ein Angebot gemacht.»
    «Wow», sagt er aufrichtig verblüfft, «das ging aber schnell.» Sie ist der erste Mensch, mit dem er an diesem Tag spricht, und die Größe der Entscheidung macht ihm Angst.
    «Ich hab ja gesagt, dass sie es ernst meinen. Also, hier kommt das Angebot.»
    Er macht sich auf die Zahl gefasst, bereit, nein zu sagen, falls sie zu niedrig ist.
    Sie ist ziemlich niedrig, niedriger, als er erwartet hat, zu niedrig, um sich je damit abfinden zu können, selbst wenn sie noch raufgehen würden.
    «Ich weiß, ich weiß», sagt Charity. «Das ist nicht genau das, was wir erwartet haben, aber besser als gar nichts. Wollten Sie ein Gegenangebot machen? Das muss nicht jetzt sein, wenn Sie noch mal drüber nachdenken wollen. Warum denken wir nicht drüber nach?»
    Brooks denkt, dass es nach ihrer Provision und den Anwaltshonoraren nicht mal für die Hypothek reicht; nicht mal annähernd. Nach der letzten Schätzung durch die Stadt ist allein das Grundstück so viel wert und wird dank seiner Nachbarn immer teurer. Wenn er versucht dazubleiben, werden die Steuern ihn ruinieren. Was ändert das? Schon jetzt hat er bloß noch den Pickup, seine Kleider und seinen Computer. Früher oder später muss er auf das Haus verzichten.
    «Lassen Sie mich drüber nachdenken», sagt er.
    «Aber nicht zu lange», sagt Charity. «Meine Handynummer steht auf meiner Karte. Rufen Sie an, wenn Sie sich entschieden haben.»
    Er schnallt sein Holster um und sieht keinen Weg, der an dieser einfachen Rechnung vorbeiführt. Er versteht nicht, wie es dazu kommen konnte. Es ist nicht seine Schuld, er hat hart gearbeitet, doch zugleich begreift er, dass er versagt hat, dass ihm keine andere Möglichkeit bleibt, dass er hilflos ist. Alles in einem Jahr, denkt er, und das Auto und die Nacht kehren zurück wie ein vergessener Gedanke.
    Bevor er geht, schließt er die Hintertür ab. «Seid brav», befiehlt er den Hunden, die dastehen, als ob er sie mitnehmen könnte.
    Aus dem Pick-up sieht er, dass etwas auf dem Stumpf seines Briefkastens liegt – schwarzweiß, so groß wie eine tote Katze. Verdammte Rotznasen. (Wollen wir hoffen, dass sie ein Verkehrsopfer ist [wie wir!]. Wir würden das Greg und Travis durchaus zutrauen. Sie tun, was sie tun müssen.) Brooks rollt langsam heran, er befürchtet das Schlimmste. Das hat er sich angewöhnt. Erst als er direkt davor hält, erkennt er das nasse, von einem Gummiring zusammengehaltene Bündel. Es ist seine Post.
     
    Wie schnell der Tag vergeht, nicht wie damals, als wir noch hier lebten. Teils liegt es an der Umstellung nach der Sommerzeit; es kommt einem später vor, weil es später ist, die Uhr überlistet den Himmel. Teils

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