Halo - Tochter der Freiheit
sie im dunklen Wasser.
Alles war still, nur die Felsentauben gurrten, als wäre nichts geschehen.
ΚΑΠΙΤΕΛ 8
Der Knabe, der ein Stück vom Ufer entfernt hinter einer Böschung saß, hatte versucht, das Mädchen am Teich nicht zu beachten. Er sah sie, aber was kümmerte es ihn? Er hatte zu tun. Er hatte schon die ganze Nacht über zu tun gehabt. An diesem Morgen wollte er schlafen. Und er wäre auch längst eingeschlafen, wenn sie nicht ständig mit sich selbst gesprochen, Gedichte rezitiert, ihre Haare geschnitten und wie eine Verrückte im Teich geplanscht hätte. Aber er musste nicht schlafen. Er war darin geübt, ohne Schlaf auszukommen, genauso wie er ohne Essen oder Trinken oder Wärme auskommen konnte. Sie machte auch keine Anstalten zu gehen. Ihre Gegenwart hatte seine Stimmung beeinflusst und ihn von seinem Ziel abgelenkt. Er wollte lieber weitergehen.
Dies hatte er gerade beschlossen, als er bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Dem Platschen, als sie ins Wasser gesprungen war – war kein Wiederauftauchen gefolgt. Zu plötzlich war Stille eingetreten.
Er drehte sich auf den Bauch und spähte über die Böschung nach unten. Im Wechsel von Licht und Schatten sah er die Gestalt im Wasser treiben.
Der Knabe zögerte nicht. Er suchte das Wasser nach Felsen und anderen Gefahren ab, warf seinen Umhang ab und machte einen glatten Hechtsprung ins Wasser. Er tauchte neben ihr auf, drehte sie herum und zog ihren Kopf auf seine Schulter. Wie ein Frosch mit den Beinen strampelnd, schleppte er sie ans Ufer und zog sie auf die glatten Felsen hinauf.
Er legte sie mit dem Bauch nach unten in die Sonne und drückte auf ihren Rücken, wie er es gelernt hatte, um einen Ertrinkenden zu retten.
Sie würgte und keuchte. In ihren stacheligen, nassen Haaren klebte Blut. Er hockte sich neben sie. Sie erbrach sich. Sie war bei Bewusstsein.
Halo hob ihren Kopf. Sie sah einen Knaben. Oder einen jungen Mann. Jedenfalls älter als sie. Seine Haare waren schwarz wie die ihren, kurz wie die ihren, und seine Augen grüngrau im sonnengebräunten Gesicht.
Ein Mensch.
Sie wischte mit dem Arm über ihr Gesicht und bemerkte Blut.
Sie spürte das warme Blut auf ihrem Kopf und berührte die Wunde vorsichtig mit dem Finger. Ihr Kopf dröhnte vor Schmerzen. Sie legte sich wieder hin, sie fühlte sich schwach und benommen.
»Bleib so«, sagte der Knabe mit einem fremdartigen Akzent. »Ich mache es sauber.«
Er schöpfte mit seinen Händen Wasser und goss es über ihren Kopf und wusch das Blut aus ihren Haaren. Auch er roch nach Schweiß und Schaf, doch bei ihm war es kein unangenehmer Geruch.
»Die Wunde ist nicht groß«, sagte er.
»Danke«, flüsterte sie, »ich hätte …«
»Aber du bist nicht«, unterbrach er sie.
»Danke«, wiederholte sie. Sie stützte sich auf und wollte sich zu ihm umdrehen.
Da erhob er sich. Er sollte jetzt gehen. Wenn er sie jetzt verließe, könnte er so tun, als sei nichts geschehen.
Doch da verlor sie das Bewusstsein: Sie kippte um wie ein abgehacktes Tau.
Er warf sich nach vorn, um sie aufzufangen, bevor ihr Kopf auf dem Felsen aufschlagen konnte. Dann saß er da, ihren Kopf praktisch in seinem Schoß. Was sollte er jetzt tun?
Er betrachtete sie und sah ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren mit unmöglich gestutzten Haaren und völlig zerkratztem Körper. Und seltsam – um den Hals trug sie eine goldene Eule. Sie sah aus, als hätte sie länger in der Wildnis zugebracht als er. Das Gesicht wirkte blass unter der Sonnenbräune, und sie hatte – was war das? – eine merkwürdige Tätowierung auf ihrer Stirn, verblichen und undeutlich.
Warum war sie nicht zu Hause bei ihrer Mutter? War sie eine geflüchtete Sklavin? Eine Helotin war sie jedenfalls nicht, auch keine Spartanerin …
Der Knabe wusste nicht, was er tun sollte.
Er wusste, was er tun müsste. Er müsste ihren Kopf von seinem Schoß schieben, sie ihrem Schicksal überlassen und zu seinen Aufgaben zurückkehren. Darüber bestand kein Zweifel. Er befand sich mitten in einer der wichtigsten Prüfungen seines Lebens. Bald würde er ein vollwertiger Soldat Spartas sein. Ein solcher ließ sich von einer jungen Ausreißerin nicht ablenken.
Ihre Wunde blutete wieder. Dickes rotes Blut sickerte durch ihr feuchtes schwarzes Haar. Sie zitterte.
Er faltete ihren Chiton zusammen, bettete ihren Kopf darauf und deckte sie mit ihrem Umhang zu. Es war, als hätte er keinen Einfluss auf das, was er tat. Er hätte gehen müssen, aber in
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