Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan
Gesichter.
»Wie wär’s denn, wenn wir alle mal eine Auszeit nehmen? Es ist ein langes Wochenende, und ein bisschen Entspannung könnte keinem von uns schaden.« Ich konnte kaum glauben, dass ich das sagte, aber das beständige Sticheln ging mir verdammt auf die Nerven.
»Pete, geh doch noch mal ’ne Runde Golf spielen. Ryan, lass uns in die Stadt fahren und Emma zu einem Tag am Strand entführen.«
Es kam kein Widerspruch.
Zwanzig Minuten musste ich auf Emma einreden, aber schließlich gab sie nach.
Die Sonne brannte, der Himmel war keramikblau und völlig wolkenlos. Als wir am Strand ankamen, wimmelte es bereits von Leuten, die auf Badetüchern brieten, in Liegestühlen lümmelten und generell Hautschichten zerstörten.
Emma und ich trieben abwechselnd auf Luftmatratzen und schlenderten am Strand entlang, wo die auslaufenden Wellen unsere Füße umschäumten. Hoch über uns flogen Pelikane in Formation. Hin und wieder zog einer aus dem Geschwader die Flügel ein und stürzte sich ins Meer. Die Glücklichen tauchten mit einem Fisch wieder auf, die Unglücklichen nur mit triefenden Schnäbeln.
Im Gehen erzählte ich ihr von meinen Gesprächen mit Gullet und Winborne und fragte sie, ob ich am nächsten Morgen in der Leichenhalle arbeiten könne. Emma versicherte mir, dass sie sich darum kümmern werde. Obwohl es mir auf der Zunge lag, fragte ich sie nicht nach Susie Ruth Aikman. Und auch nicht nach dieser Geschichte mit dem Kreuzfahrtschiff, die Winborne in seinem letzten Artikel über Aikman erwähnt hatte.
Ryan verbrachte die Stunden damit, im Schatten eines riesigen Sonnenschirms, den wir unter Annes Haus hervorgezerrt hatten, einen Roman von Pat Conroy zu lesen. Hin und wieder wagte er sich unter seinem Schutz hervor, um abwechselnd ein paar Runden zu kraulen oder eine kanadische Form des Rückenschwimmens zu demonstrieren, dann trocknete er sich ab, cremte sich frisch ein und machte es sich wieder in seinem Liegestuhl bequem.
Als wir zum Sea for Miles zurückfuhren, war Emmas Farbe wieder annähernd normal. Ryans zuvor hühnchenweiße Haut war jetzt grapefruitrosa.
Nachdem ich geduscht hatte, fuhren wir drei zu Melvin’s Barbecue, und dann brachten Ryan und ich Emma nach Hause. Es war ein unbeschwerter, ruhiger und sehr entspannender Nachmittag.
Alles bestens getimt. Ob nun langes Wochenende oder nicht, ich stand kurz davor, Gullet seinen nächsten Patienten zu servieren.
28
Um halb neun am nächsten Morgen waren Ryan und ich bereits unterwegs zur MUSC. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Charleston wirkte er entspannt. Am Abend zuvor hatte er noch einmal mit Lilys Mutter telefoniert. Seine Tochter war zwar noch immer wütend und feindselig ihm gegenüber, aber wenigstens hatte sie sich bereit erklärt, eine Beratung aufzusuchen. Lutetia organisierte eben die Termine.
Vielleicht war es aber auch der Sonnenbrand. Oder das Tête-à-tête nach dem Abendessen. Was immer der Grund sein mochte, Ryan wirkte viel weniger angespannt.
Lee Ann Miller wartete an der Tür zur Leichenhalle auf uns. Nach einer fast identischen Wiederholung von Ryans frühmorgendlichem Kommentar zu dem in allen Regenbogenfarben schillernden Fleck auf meinem Ellbogen ging sie in den Kühlraum, um die Dame aus dem Fass zu holen. Während sie weg war, versuchte ich es noch einmal bei Nelson Teal. Diesmal war besetzt.
Ein möglicher Fortschritt. Besetzt bedeutete entweder, dass jemand zu Hause war oder dass ein Zweiter ebenfalls versuchte, diese Nummer zu erreichen.
Nachdem Miller mir die Überreste in den Autopsiesaal gebracht hatte, ging sie davon, um Papierkram zu erledigen. Ryan setzte sich mit seinem Roman auf einen Stuhl.
Ich streifte Gummihandschuhe über und legte dann das Skelett auf dem Untersuchungstisch zurecht. Nach dem, was ich bei Cruikshank und Helms erlebt hatte, hätte ich mich am liebsten sofort mit den Wirbeln beschäftigt. Doch ich zügelte mich und ging streng nach Protokoll vor, fing beim Kopf an und arbeitete mich, jeden Knochen unter Vergrößerung untersuchend, bis zu den Zehen vor.
Der Schädel zeigte keinen Hinweis auf Gewalteinwirkung. Der Unterkiefer war unbeschädigt. Auch an den Händen, den Arm- und Schulterknochen fand ich nichts. Das Brustbein und die obersten Halswirbel waren intakt.
Dann änderte sich alles.
»Schau dir das an«, sagte ich zu Ryan, während sich in meinen Eingeweiden kaltes Grauen ausbreitete.
Ryan spähte durch das Okular.
»Was du da siehst, ist der linke
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