Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan
die Jalousien fielen. Ein Zucken in Gullets rechtem Augenwinkel.
Sekunden vergingen. Eine Minute. Eine Frau streckte ihren Kopf zur Tür herein, dieselbe, die Gullet losgeschickt hatte, um seine angeheirateten Verwandten zu beruhigen, die streitenden Haeberles.
»Dachte, das interessiert Sie vielleicht. Marshall ist wieder auf freiem Fuß. Hat eben eine Pressekonferenz abgehalten. Der Anwalt übernahm das Reden. Marshall arbeitete an seiner Nominierung für die beste Darstellung eines unschuldig Verfolgten in einer stummen Rolle.«
Gullet nickte knapp.
»Tybee glaubt, er hat was über einen Piloten.«
»Sagen Sie ihm, ich bin gleich da.«
Ich schaute auf die Uhr. Daniels könnte jetzt gerade die Stadt verlassen, könnte bereits hunderte von Meilen von Charleston entfernt sein. Der Gedanke, dass er davonkommen könnte, ließ mich bis ins Mark erschaudern.
»Überlegen Sie sich, Daniels zu verhaften?«
»Weswegen?«
»Weil er seinen Hund verprügelt oder auf den Bürgersteig gespuckt oder vom Bug seines Boots gepinkelt hat. Ist mir egal. Schaffen Sie ihn hierher, besorgen Sie sich Durchsuchungsbefehle und stellen Sie seine Wohnung auf den Kopf, sein Auto, und überprüfen Sie seine Telefondaten, so wie sie es bei Marshall getan haben. Vielleicht stoßen Sie auf etwas.«
»Die Medien stürzen sich auf mich wie ein Rudel Wölfe auf Spareribs. Herron ist fuchsteufelswild wegen der Publicity.« Gullet deutete zum Telefon. »Den ganzen Vormittag habe ich mir vom Gouverneur und vom Bürgermeister den Arsch aufreißen lassen. Das Letzte, was ich jetzt brauche, ist noch eine wackelige Verhaftung.«
»Besorgen Sie wenigstens einen Durchsuchungsbefehl für sein Haus und sein Boot.«
»Mit welcher Begründung? Dem Verdacht, da könnte etwas sein, das wir bis jetzt übersehen haben? Wenn ich das tue, nagelt die Presse mich ans Kreuz.«
»Wegen möglicher Beihilfe und Unterstützung. Wegen Mittäterschaft. Benutzen Sie dieselben Argumente, die Sie bei Marshall benutzt haben, um die Durchsuchungsbefehle zu bekommen. Hören Sie, ich weiß, es ist schwer, in Marshall etwas anderes zu sehen als einen geldgierigen Mistkerl, der kranke, hilflose Leute umgebracht hat.«
»Das haben Sie mehr als deutlich gesagt. Und jetzt verteidigen Sie diesen Mann?«
»Ich sage nur, ich bin mir nicht sicher.« Meine Kehle war trocken. »Rein aus Pflichtbewusstsein sollten Sie die Möglichkeit, dass Daniels der Mörder sein könnte, zumindest in Betracht ziehen. Sie sollten ihn verhaften, wenn Sie auch nur den geringsten Zweifel haben.«
»Ich weiß nicht, mit welchen juristischen Spitzfindigkeiten Sie in Ihrem Bereich arbeiten, Doc, aber hier bei uns funktioniert das nicht so. Ich kann keine Leute verhaften, nur weil ich Zweifel habe. Außerdem habe ich keine Zweifel. Sie haben die. Ich halte Marshall für den verdammten Täter.« Es war das erste Mal, dass ich Gullet fluchen hörte.
»Wenn Daniels auf freiem Fuß ist, kann er wieder töten.« Es kam aggressiver heraus, als ich beabsichtigt hatte.
Gullets Kiefermuskeln zuckten. »Wen denn töten? In dieser Ambulanz wird’s keine Operationen mehr geben.«
»Ich dachte an Marshall. Er ist frei. Wenn Daniels Marshall ermordet, bedeutet das das Ende der Ermittlungen. Die Leute könnten annehmen, dass ein Freund oder ein Verwandter eines Opfers Marshall umgebracht hat, und Daniels bleibt ein freier Mann.«
Ohne den Blick von mir zu nehmen, drückte Gullet auf einen Knopf am Telefon. Aus dem Lautsprecher tönte eine krächzende Stimme.
»Zamzow.«
»Marshall hat das Gerichtsgebäude verlassen?«
»Vor ungefähr vierzig Minuten.«
»Was macht er jetzt?«
»Ist mit einem Anzugträger weg. Sie gingen kurz in ein Büro an der Broad, Anzugträger blieb dort, Marshall fährt jetzt auf der 17 nach Süden.«
»Wahrscheinlich nach Hause. Bleiben Sie an ihm dran.«
»Diskret?«
»Nein. Lassen Sie ihn ruhig wissen, dass Sie da sind.«
Gullet drückte wieder auf den Knopf, und die Leitung war tot.
»Sie sollten sich Daniels wirklich schnappen«, bedrängte ich ihn.
»In einer Sache haben Sie Recht: Was auf Marshall hindeutet, sind wirklich größtenteils Indizien. Aber was Sie mir über Daniels liefern, ist auch nicht besser.« Gullet stand auf. »Dann wollen wir doch mal sehen, was Tybee hat.«
Deputy Tybee saß an einem von zwei Computern im Bereitschaftsraum im ersten Stock, Stapel von Ausdrucken lagen um die Tastatur herum verstreut.
»Was haben Sie?«, fragte Gullet, als wir das
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