Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan
Problem mit den Telefondaten gibt«, fuhr ich fort. »Irgendjemand rief Noble Cruikshank aus Marshalls Büro an, und zwar an einem Abend, an dem Marshall gar nicht dort war.«
»Cruikshank ermittelte. Vielleicht hat da jemand geplaudert.«
Ich merkte deutlich, dass Gullet mir nicht glauben wollte. Er hatte einen Mann verhaftet, einen Arzt. Er wollte seinen Fall luftdicht abgeschlossen haben. Ich hatte ihn zu dieser Schlussfolgerung gebracht. Die Staatsanwaltschaft hatte zugestimmt. Und jetzt quasselte ich ihm schon wieder die Ohren voll.
»Daniels vollständiger Name lautet Corey Reynolds Daniels, aber das wissen Sie sicher bereits. Was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass Daniels eine Tante hat, die auf Dewees Island lebt. Und dass diese Tante ihm ein Boot geschenkt hat.«
»Dass er ein Boot hat und Dewees kennt, macht ihn noch nicht zum Mörder.«
»Nach seiner Pflegerausbildung war Daniels drei Jahre lang in einem Krankenhaus beschäftigt. Er arbeitete nicht immer im gemeinnützigen Bereich.«
»Reicht nicht.« Der Sessel puffte, als Gullet den Rücken ins Leder drückte.
»Er war Chirurgiepfleger. Zwei Jahre lang assistierte er im OP, sah bei Operationen zu und hatte genügend Gelegenheit, sich die Verfahrensweisen anzueignen.«
»Jemand, der Instrumente zurechtlegt, ist noch kein Chirurg.«
»Auf unserer Seite war kein Chirurg nötig. Es ging ja nicht darum, die Patienten am Leben zu halten. Man musste nur wissen, wie man Organe so entnimmt, dass man sie konservieren und wieder verwenden kann.
Denken Sie ans Timing. Daniels kam zweitausend nach Charleston zurück und fing zwo-eins an, in der Ambulanz zu arbeiten. Willie Helms verschwand im September zwo-eins.«
Als ich nun den ersten schwachen Schein des Zweifels in Gullets Augen sah, schlug ich meinen letzten Nagel ein.
»Cruikshank lud sich Artikel über Organhandel aus dem Netz. Ich habe einige davon gelesen, als ich mir seine Festplatte anschaute, erkannte aber lange die Bedeutung von einem speziellen nicht. Bis jetzt.
Seit dreiundneunzig wurden in Ciudad Juarez und Chihuahua, Mexiko, fast vierhundert Frauen und Mädchen ermordet, weitere siebzig sind als vermisst gemeldet. Studentinnen, Verkäuferinnen. Industriearbeiterinnen, einige gerade mal zehn Jahre alt. Viele Leichen wurden in flachen Gräbern in der Wüste, auf Baustellen und Rangierbahnhöfen im Umkreis der Städte gefunden.
Zweitausenddrei übernahm das Büro des mexikanischen Generalstaatsanwalts mehrere Fälle. Staatliche Ermittler gaben an, sie hätten Beweise, dass einige der Opfer von einem internationalen Organhandelring ermordet worden sein könnten. Ein Artikel, den Cruikshank fand, zitierte einen Beamten der Abteilung Organisiertes Verbrechen, der sagte, ein Zeuge habe einen Amerikaner als Mitglied dieses Rings identifiziert.«
Ich durchbohrte Gullet mit einem Blick.
»Daniels macht seine Ausbildung und arbeitet in El Paso, Texas. Ciudad Juarez liegt El Paso direkt gegenüber auf der anderen Seite der Grenze.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Daniels daran beteiligt war?«
»Ich sage nur, dass er beteiligt gewesen sein könnte. Selbst für den Fall, dass er es nicht war – er war in El Paso. Er hatte mit Sicherheit von den Morden gehört. Er hätte Kontakte knüpfen können. Er hätte sich aber auch von der Idee inspirieren lassen und dann hierher kommen können, um seinen eigenen Ring aufzuziehen.«
Gullet strich sich mit der Hand übers Kinn.
»Daniels wohnt auf Seabrook und besitzt ein sehr teures Boot.«
»Sie sagen doch, er ist ein Reynolds.«
»Was nicht unbedingt was heißen muss. Ich weiß, für sich allein genommen, sieht keiner dieser Fakten verdächtig aus. Vertrautheit mit Dewees Island. Der Besitz eines Boots. Zugang zur GMC-Ambulanz und ihren Patienten. Chirurgische Kenntnisse. Aufenthalt in El Paso. Aufwendiger Lebensstil. Unerklärbarer Anruf von Marshalls Telefon. Aber alles zusammengenommen –« Ich ließ den Satz unvollendet.
Gullet durchbohrte mich mit einem Blick. Keiner sagte etwas.
Das Telefon durchbrach die Stille. Es klingelte einmal. Viermal. Gullet ignorierte es.
Einige Augenblicke prägen sich dem Gedächtnis unauslöschlich ein, Sinneswahrnehmungen werden gespeichert, die man normalerweise gar nicht bewusst registriert. Dies war so ein Augenblick.
Ich erinnere mich an ein winziges, rotes Quadrat, das am Telefon blinkte. Eine Stimme im Korridor rief jemanden namens Al. Staubpartikel tanzten in den Sonnenstrahlen, die schräg durch
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