Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan
die Geräusche am anderen Ende zu hören. Oder Ryan merkte, dass ich etwas kurz angebunden war. »Ist es gerade ungünstig?«
»Ich habe eben gegessen.« Über mir schrie eine Möwe.
»Am Strand?«
»Es ist ein wunderbarer Abend.« Blöd. Ryan wusste, wie ungern ich allein aß. »Pete hat ein Picknick vorbereitet.«
Ganze fünf Sekunden lang sagte Ryan gar nichts. Dann: »Aha.«
»Wie geht’s Lily?«
»Gut.« Nach ein weiteren, langen Pause: »Ich ruf dich später noch mal an, Tempe.«
Die Verbindung war tot.
»Probleme?«, fragte Pete.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich gehe jetzt ins Bett.« Ich stand auf. »Danke fürs Abendessen. Es war wirklich sehr gut.«
»War mir ein Vergnügen.«
Ich betrat den Steg.
»Tempe.«
Ich drehte mich um.
»Wenn du so weit bist, mir zuzuhören, würde ich gerne mal reden.«
Als ich aufs Haus zuging, spürte ich Petes Blick auf meinem Rücken.
Mein Nachmittagsnickerchen war schuld daran, dass ich erst weit nach drei einschlief.
Oder war es die Aufregung über Ryans Eingeschnapptsein? Ich hatte noch ein paarmal angerufen, aber er war nie drangegangen.
War Ryan wirklich eingeschnappt? Oder bildete ich mir das nur ein? Er war doch derjenige, der nach Nova Scotia gefahren war, um Lily zu besuchen. War denn nicht Lilys Mutter in Nova Scotia?
Wie auch immer.
Und was war mit Emma los? Der Anrufer am Samstag hatte ihr offensichtlich keine guten Nachrichten übermittelt. War sie in Schwierigkeiten wegen dieses Vorfalls mit dem Kreuzfahrtschiff?
Wer hatte früh an diesem Morgen vor Annes Haus geparkt? Dickie Dupree? Er hatte mir gedroht, aber ich hatte ihn nicht ernst genommen. Würde Dupree sich zu körperlicher Einschüchterung herablassen? Nein, aber er könnte ja jemanden schicken.
Könnte Dupree etwas mit dem auf Dewees vergrabenen Skelett zu tun haben? Das schien mir doch ziemlich weit hergeholt zu sein.
Stundenlang warf ich mich im Bett herum, und am Montagmorgen schlief ich länger, als ich geplant hatte.
Es war schon nach zehn, als ich im Krankenhaus ankam. Emma war bereits da. Und auch der forensische Dentist, ein Koloss in einem Jogginganzug, den er offensichtlich bei einem Ausverkauf im K-Mart erstanden hatte. Emma stellte ihn als Bernie Grimes vor.
Grimes’ Griff gehörte zu jenen, bei denen man nicht wusste, wie man damit umgehen sollte. Zu schlaff, um kräftig zuzugreifen. Zu klebrig, um die Hand herausgleiten zu lassen.
Schließlich befreite ich meine Hand und lächelte Grimes an. Er erwiderte das Lächeln und sah dabei aus wie ein Silo in blauem Velours.
Emma hatte das Skelett bereits aus dem Kühlraum geholt. Es lag auf derselben Rollbahre wie am Samstag, ein großer, brauner Umschlag bedeckte die Rippen. Die Zahn-Röntgenaufnahmen klemmten wieder am Lichtkasten.
Grimes ging mit uns Punkt für Punkt die morphologischen Charakteristika, die Zahnhygiene und die gesamte zahnärztliche Geschichte von CCCC-2006020277 durch. Raucher. Nachlässiger Putzer. Kein Freund von Zahnseide. Füllungen. Unbehandelte Löcher und massiver Zahnstein. War vor seinem Tod mehrere Jahre lang bei keinem Zahnarzt gewesen. Ich hörte kaum zu. Ich wollte mir endlich die Knochen genauer anschauen.
Schließlich kam Grimes zum Ende, und er und Emma gingen davon, um ein NCIC-Fallformular auszufüllen. Eine nach der anderen betrachtete ich die Ganzkörperaufnahmen. Schädel. Obere Gliedmaßen. Untere Gliedmaßen. Becken.
Nichts. Das überraschte mich nicht. Schon bei der ersten Betrachtung der Knochen hatte ich nichts Offensichtliches bemerkt.
Ich wandte mich dem Torso zu.
Da nun kein Fleisch mehr vorhanden war, das die Rippen hätte zusammenhalten können, hatte die Labortechnikerin sie flach ausgebreitet und von oben fotografiert. Am rechten Rippenbogen fiel mir nichts Verdächtiges auf. Ich wollte eben die Untersuchung des linken beenden, als mir am Wirbelende der zwölften Rippe ein dunkler Halbmond ins Auge stach.
Ich ging zur Rollbahre, nahm die entsprechende Rippe und trug sie zu einem Mikroskop. In der Vergrößerung erschien diese Schadstelle als winziger Schnitt, begrenzt von einer Knochenaufwölbung am unteren Rippenrand. Der Defekt war zwar winzig, aber real.
War der Schnitt durch eine Messerklinge verursacht worden? War unser Unbekannter erstochen worden? Oder war die Kerbe ein postmortales Artefakt? Von einer Kelle? Einer Schnecke oder einem Krustentier? Wie oft ich die Rippe auch hin und her drehte, wie sehr ich die Vergrößerung auch verstärkte oder die
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