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Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan

Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan

Titel: Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathy Reichs
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in den Wald hineingingen, schaltete ich meinen Verstand auf Fundortmodus. Von jetzt an würde ich alle peripheren Eindrücke ausblenden und mich nur noch auf das Wesentliche konzentrieren. Ich würde jede übermäßig üppige Pflanze registrieren, jeden abgebrochenen Zweig, jeden Geruch, jedes Insekt. Das Menschengewirr um mich herum würde zu Hintergrundrauschen werden.
    Der Wald hier war eine Mischung aus Weihrauchkiefer, Amberbäumen, Hemlocktannen und Buchen. Hartriegel, Zaubernuss und Nelkenpfeffer wucherten im Unterholz und aromatisierten die Luft mit ihrer sonnengetrockneten Süße.
    Gullet legte ein forsches Tempo vor. Sonnenstrahlen brachen durchs Blätterdach und erzeugten eine wilde Geometrie aus Licht und Schatten. Hin und wieder raschelten Blätter, wenn irgendwo unsichtbares Kleingetier durchs Gestrüpp huschte. Die Erde unter den Sohlen fühlte sich weich und feucht an.
    Nach zwanzig Metern öffnete sich eine kleine Lichtung. Rechts lag ein Sumpf, die gläsern schwarze Oberfläche wurde nur selten von einer Libelle oder einem Wasserläufer gestört.
    Sumpf- und Weihrauchkiefern säumten das Ufer. Die Bäume wirkten verkümmert, urzeitlich, die Stämme verschwanden in tintiger Dunkelheit, die Wurzeln waren knorrig und moosig grün.
    Fünf Meter vom Wasserrand entfernt stand eine einzelne Weißeiche. Die Leiche hing am untersten Ast, die Zehen knapp über dem Boden.
    Während ich mich langsam der grausigen Szenerie näherte, fragte ich mich, was für eine schwarze Weltsicht zu einem solchen Ende führen konnte. In was für einer Gemütsverfassung musste diese verängstigte Seele gewesen sein, um eine Schlinge zu knüpfen, das Seil festzubinden und zu springen?
    Männer in Uniform und Zivilkleidung standen herum, redeten, verscheuchten Fliegen und erschlugen Moskitos. Jedes Hemd war feucht, jede Achselhöhle dunkel vor Schweiß.
    Eine Frau filmte mit einer Videokamera: Zwei Fotoapparate baumelten vor ihrer Brust. Ihre Bluse zeigte das Logo des Charleston County Coroner.
    Ich überquerte die Lichtung und stellte mich vor. Die Frau hieß Lee Ann Miller. Sie war gebaut wie ein Holzfäller und hatte kupferrote Locken, deren Farbe direkt aus der Flasche kam.
    »Was dagegen, wenn ich mir die Leiche anschaue?«
    »Nur zu, Schätzchen.« Miller schob sich die Haare aus der Stirn und strahlte mich mit einem Lächeln an, das breiter war als der Hafen von Charleston.
    »Ich kann aber auch warten, bis Sie mit dem Filmen fertig sind.«
    »Wenn ich um Ihren kleinen Hintern nicht herumarbeiten kann, dann habe ich den falschen Job.« Miller fächelte sich Luft an den Hals und zeigte noch einmal ihr Hafenlächeln.
    Trotz der Umstände grinste ich ebenfalls. Lee Ann Miller sah aus wie eine Frau, zu der die Leute gingen, die Trost suchten. Oder einen Rat. Oder wenn sie einfach nur wieder einmal herzhaft lachen wollten.
    Während ich zum Baum ging, sprach Gullet mit einem der anderen Männer. Ich hörte nicht zu. Ich konzentrierte mich auf die Details.
    Die Leiche hing an einem dreisträngigen Polypropylen-Seil. Die Schlinge hatte sich tief in den Hals eingegraben, etwa in Höhe des dritten und vierten Halswirbels. Der Kopf und die oberen beiden Halswirbel fehlten.
    Die Knochen waren bedeckt mit ausgedörrtem und verfaultem Bindegewebe. Die Kleidung hing schlaff herunter wie an einer Vogelscheuche. Schwarze Hose. Eine Jeansjacke, was darauf hindeutete, dass es zum Zeitpunkt des Erhängens kühler gewesen war. Braune Socken. Abgenutzte Stiefel.
    Ein Stiefel.
    Ich schaute mich um. Die Knochen des rechten Beins lagen, mit einem gelben Wimpel gekennzeichnet, gut drei Meter östlich der Leiche.
    Ich ging hinüber. Die Fußknochen und die distalen Enden von Schien- und Wadenbein steckten noch fest im Stiefel. Die proximalen Enden fehlten, die Schäfte waren schartig und zersplittert.
    »Erklären Sie mir das.« Gullet stand direkt neben mir.
    »Tiere sind Opportunisten. Die meisten fressen Aas, wenn sich ihnen die Gelegenheit bietet.«
    Ein Moskito bohrte sich in meinen Arm. Ich schlug ihn weg und ging weiter.
    Der Schädel lehnte, drei Meter hangabwärts vom Baum entfernt, an einer der Wurzeln, die sich von seinem Stamm wegschlängelten. Auch neben ihm steckte ein Wimpel.
    Auch er war angefressen.
    »Kein Tier ist da hochgeklettert und hat den runtergeschmissen.« Gullet war noch immer dicht bei mir.
    »Bei derart hängenden Leichen können die Umweltbedingungen dazu führen, dass der Kopf abfällt.« Über mir hörte ich

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