Halsabschneider. Kadir Bülbüls erster Fall
lebte
alleine in einer Zweizimmer-Wohnung im Hamburger Stadtteil Wandsbek und besaß
keine näheren Verwandten. Levent Kirik durchsuchte das Internet nach ihrem Namen,
fand aber auf Anhieb nichts. Bülbül machte sich eine Notiz, dass er die
einschlägigen deutschen Internet-Partnervermittlungen mithilfe seiner
ehemaligen Kollegen in Köln überprüfen wollte; es schien ihm mehr als wahrscheinlich,
dass eine Frau, die alleine verreiste und bei allen den Eindruck hinterließ,
dass sie auf Männerjagd war, sich dort angemeldet und vielleicht ihren Mörder
getroffen hatte. Sie wäre nicht die Erste, dachte Bülbül, und folgte Latife,
die ihn präsentierte wie einen Oscar-Gewinner, indem sie vor ihm ins Wohnzimmer
trat, mit beiden Händen auf ihn deutete und dann leicht und geschmeidig im
Krebsgang an den Rand seines Blickfeldes verschwand.
Onkel
Yusuf drehte sich in seinem Sessel um und klatschte begeistert in die Hände.
»Ah,
der Herr komiser höchstpersönlich! Komm her und lass dich begrüßen!«
Kadir
tat einen Schritt nach vorne, doch er sah seinen Onkel nicht, denn sein Blick
wurde von Nevin Arslans Gestalt aufgesogen. Die Sonne wanderte hinter ihr
langsam in Richtung Meer und sie saß regungslos, scheinbar selbstvergessen, mit
einem harmlosen kleinen Lächeln auf den Lippen, als wüsste sie nicht genau, wie
vorteilhaft das schmeichelnde Abendlicht sie zur Geltung brachte. Selbst Audrey
Hepburn, dachte Kadir, wirkte neben Nevin wie ein wuchtiger Brummer mit
winzigen Vogelaugen.
Er
wurde mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück katapultiert, als die
blaugeäderte Hand seines Onkels vor seiner Nase auftauchte. Weder sein Vater
noch seine Mutter ließen es zu, dass man ihnen aus Respekt zur Begrüßung die
Hand küsste, und Kadir tat sich bis zum heutigen Tage schwer, dieser Tradition
zu folgen. Er konnte die erhobene Hand jedoch nicht ignorieren, dies hätte
seinen Onkel schwer beleidigt, und so nahm er sie und führte sie rasch an die
Lippen, küsste wie aus Versehen seine eigene Hand, und hob Yusufs Finger
schnell an die Stirn. Dann trat er um den Wohnzimmertisch zu Nevin, die
aufgestanden war und ihm die Wange reichte, und er spürte zu seinem Entsetzen,
wie eine heiße Röte seinen Nacken empor wanderte, als er ihre samtige Haut
berührte. Er fühlte sich erst wieder in Sicherheit, als er seinen Vater
begrüßte, der ihm herzlich zunickte.
»Wie
geht es dir, mein Sohn? Du musst einen anstrengenden Tag hinter dir haben! Eine
tote Touristin, was für ein Unglück!«
»Ja,
ein ziemlicher Schlamassel, ich fürchte, die Medien werden sich darauf stürzen
und Kommissar Dalga kriegt Unterstützung von ganz oben, was ihm wohl manch
schlaflose Nacht bereiten wird. Vorbei ist es mit dem ruhigen Leben! Aber wie
geht es dir, baba? «
»Oh,
wunderbar, wunderbar, Tomaten und Zucchini gedeihen prächtig, ich bringe dir demnächst
wieder einen Korb oder zwei vorbei. Du wirst staunen, ein solches Aroma findest
du auf dem besten Markt in ganz Dereköy nicht!«
Kadir
dachte an die zwei Plastiktüten mit jungem Gemüse, die sein Vater an den
Flughafen geschleppt hatte, als Kadir im Frühjahr nach Deutschland geflogen
war, um seine Schwestern zu besuchen. Nimm mit, Sohn, das passt noch unter
deinen Arm, die Kinder deiner Schwester sollen nicht an den Folgen dieses grässlichen
Supermarktgemüses eingehen, dass sie einkauft und dann verkocht, eine
schreckliche Köchin ist sie, weiß der Himmel warum, denn deine Mutter versteht
ihr Handwerk!
»Und...«,
Kadir räusperte sich und hob die Augen zu Nevin, »wie geht es Ihnen, Nevin?«
»Hervorragend,
die Praxis lässt sich sehr gut an, die Leute empfehlen mich weiter und das ist
besser und wirkungsvoller als jedes Zeitungsinserat. Und wie geht es Ihnen?«
»Noch
etwas Tee, Nevin? Du auch, Kadir?«
Beide
nickten und Latifes Lippen kräuselten sich voller Hoffnung, als sei die
gemeinsame Zustimmung zum Teetrinken das sichere Zeichen einer tieferen
Seelenverwandtschaft.
»Und
wie geht es dir, Yusuf amca ?«
»Könnte
nicht besser sein, Neffe, könnte nicht besser sei. Ich habe neue Fotos vom
Strand gemacht, dies Mal war ich bis hinauf bei Kumkapi. Und wie geht es dir?
Was macht der Mord?«
»Gut
geht es, danke. Der Mord ist sehr kompliziert, ich sagte es gerade zu meiner
Mutter und ...«
»Ich
habe die Fotos mitgebracht. Wollt Ihr sie sehen?«
Yusuf
streckte die Beine, die in einer großkarierten Winterhose steckten, unter dem
Tisch aus und wühlte in seinen
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