Halsabschneider. Kadir Bülbüls erster Fall
Taschen.
»Später, abi, später, nun trinken wir erst noch in Ruhe unseren Tee und werden zu
Abend essen. Wenn der Magen satt ist, hat man mehr Muße, Kunst zu würdigen,
stimmt es nicht, Kadir?«, warf Nazmi Bülbül ein, und Nevin bekam einen
Lachanfall, den sie hinter angestrengtem Husten verbarg.
»Eine
Schale, von den Sonnenblumenkernen, mitten im Hals.«, krächzte sie und stand
auf, um Latife in die Küche zu folgen.
»Nun,
auch mit leerem Magen, kleiner Bruder, lässt sich Kunst würdigen. Wenn du
Hunger hast, iss Nüsse oder Obst, hier steht doch genug auf dem Tisch. Sieh
nur, Kadir, hier, das ist nahe bei den Klippen, kurz vor der Biegung in
Richtung dieses abgetrennten Strandabschnittes, den sie ...,« Yusuf blickte zur
Küche und senkte die Stimme, »... nun für die Nackigen umbauen!«
Er
klopfte auffordernd auf die Sessellehne, und Kadir setzte sich neben ihn und
nahm das Foto entgegen. Seit Jahren fotografierte Onkel Yusuf Sand, jede Art
von Sand: Fein- und grobkörnig, nass und trocken, Sand an der Nordsee, von
feinen rosafarbenen Würmern durchzogen, und rollende Kiesel am Strand von
Dereköy, über die winzige, hektische Krebse huschten. Seine Leidenschaft für
die Fotografie hatte er in Deutschland entdeckt, er lief jahrelang durch
Köln-Mülheim, Niehl, Nippes und Merkenich auf der Suche nach Bäumen, Bäumen,
die exakt seiner Vorstellung entsprechen mussten. Oft hatte er seinen Neffen
Kadir im Schlepptau, der, wie Yusuf fand, ein ausgeprägtes Talent, ein feines
Auge für passende, künstlerisch wertvolle Kastanien und Buchen besaß. Bei Eichen
und Birken versagte der Kleine, aber Kastanien und Buchen! Hatten sie ein
schönes, nach Yusufs Kriterien ausreichend ausgestattetes Exemplar gefunden,
umkreiste er den Baum erst rechts, dann links, hieß seinen Neffen Schweigen,
und kreiste weiter. Dann wanderte sein Finger vorsichtig über den Stamm, bis er
die richtige Stelle gefunden hatte, langsam hob er die Polaroid-Kamera,
schmiegte sich eng an den Baum und lichtete das Stück Rinde ab, das es ihm
angetan hatte. Kadir stand daneben, die Hände artig auf dem Rücken, wohl
wissend, dass er immer noch kein Wort sprechen durfte. Erst wenn Yusuf die
Kamera verstaut hatte und ihn an der Hand nahm um mit ihm weiterzuwandern,
durfte Kadir weiterreden und er nahm genau dort den Faden wieder auf, wo er ihn
vor dem Baum fallen gelassen hatte. Onkel, wieso hat nene dir das Schäfchen,
das sie dir zum Geburtstag geschenkt hat, wieder weggenommen? Hast du etwas
Böses getan?
Jahre
später fragte sich Kadir, ob die Leidenschaft seines Onkels für monotone
Fotoaufnahmen ursprünglich eine Abwehrstrategie gewesen war, um die endlos
langen, immer gleichen Stunden am Fließband bei Ford zu kompensieren, sie mit
den gleichen Mitteln zu schlagen, sie umzudeuten in eine lebendige Kunstform.
Anfangs
hatten die Brüder noch nebeneinander am gleichen Band gearbeitet, Yusuf als der
Ältere war es gewesen, der zuerst nach Deutschland gegangen war und seinem
Bruder einige Monate später eine Stelle im gleichen Werk verschafft hatte, denn
es gab in Dereköy nichts oder nur sehr wenig, womit sich Geld verdienen ließ.
Doch während Nazmi Bülbül eine rasche Auffassungsgabe besaß, abends mit
brennenden Augen und angestrengt die fremde Sprache aus Kadirs Grundschulheften
lernte, mit den Vorarbeitern bald in seiner angenehmen, zurückhaltenden Art
sprechen und Dinge und Prozesse erfragen konnte, und bald für anspruchsvollere
mechanische Aufgaben eingesetzt wurde, blieb Yusuf all die Jahre an ein und
demselben Platz und baute, wie er sagte, den Ford Fiesta ganz auf sich alleine
gestellt, keiner, nicht einmal die Ingenieure, kannten den Fiesta so gut wie
er. Ohne seine Vorarbeiten kein Ford Fiesta, er war von Anfang an dabei, seit
1979, ohne ihn würden die Autos auseinander brechen. Seit sieben Jahren baute
Ford das Modell nun ohne ihn und Yusuf gab seinem Erstaunen bei jedem
Familienessen Ausdruck, dass er nichts von Unfällen und Rückrufaktionen hörte,
aber sicherlich war die rückständige türkische Presse daran schuld.
Und
nun wanderte Yusuf die Küste entlang, blieb ab und zu stehen, kniete sich
nieder und strich mit einem Finger nachdenklich über den Sand, bevor er sich flach
auf den Bauch legte und das auserwählte Quadrat Strand ablichtete.
»Da
kommt man schon ins Grübeln.«, bemerkte Kadir und betrachtete das braune,
körnige Foto, auf dem, wenn er hätte raten müssen, das räudige Fell eines
streunenden
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