Halte meine Seele
heute war mein Zombie-Look anscheinend nicht mehr zu übersehen.
„Du siehst echt scheiße aus, Kaylee“, flüsterte sie. Das Mädchen vor uns reichte die Testbögen nach hinten.
„Danke.“ Ich antwortete mit einem fröhlichen Lächeln. Zumindest hoffte ich, dass es fröhlich rüberkam. „Ich hab nicht besonders gut geschlafen.“
Nachdem Harmony und Nash gestern Abend gegangen waren, hatte ich mich in meiner selbst gebastelten Schutzkleidung auf die Couch gelegt, trotzdem kam ich nicht wirklich zur Ruhe, weil Dad mich nicht aus den Augen ließ. Ich träumte zweimal in vier Stunden vom Tod, und Dad rüttelte mich beim ersten Ton des Seelenlieds jedes Mal sofort wach.
Dann saß er, Notizblock und Stift gezückt, vor mir, doch ich hatte wenig Neues zu berichten. Dieselbe dunkle Gestalt. Derselbe Sturz durch den Unterweltnebel. Dieselbe Panik, die im Traum in mir aufwallte. Dasselbe konturenlose Gesicht, das ich nicht erkennen konnte.
Nach den Schreien im Traum, der Nahtoderfahrung und der Armverletzung schien der Gedanke an ruhigen Schlaf in unerreichbare Ferne zu rücken. Und der letzte Schultag des Semesters war fast noch schlimmer als die schlaflose Nacht: Scott fehlte, und Laura Bell hatte einen Haufen reißerischer, aber völlig falscher Gerüchte gestreut.
Und jede meiner Bewegungen wurde von den Mitschülern genau verfolgt. Sie glotzten mich schon den ganzen Morgen an. Glotzten auf den Verband an meinem rechten Arm, den Beweis, dass am Vortag etwas Aufregendes passiert sein musste, das keiner mitbekommen hatte. Dabei war es gerade die Ungewissheit, die alles nur noch spannender machte.
Ich überhörte das Geflüster im Flur absichtlich, genau wie die Gerüchte, die Scott und mich miteinander in Beziehung brachten. Die behaupteten, wir hätten Nash und Sophie betrogen, was mit Abstand das Lächerlichste war, das mir je zu Ohren gekommen war.
Bis jemand das Gerücht aufbrachte, Nash habe mich mit dem Messer angegriffen, als er uns zwei zusammen erwischte – und er sei auch für Scotts mysteriösen Zustand verantwortlich.
Die harmlosesten Gerüchte stammten von denen, die Scotts seltsames Verhalten in der Mensa und im Unterricht miterlebt hatten. Sie wussten, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung gewesen war, aber für ihre Geschichten interessierte sich natürlich kein Mensch, weil sie nicht aufregend genug waren. Also mussten hauptsächlich Nash und ich uns mit den Blicken und Gerüchten rumschlagen.
Und Sophie natürlich. Ihr unerklärtes Fehlen vom Unterricht heizte die Gerüchteküche nur noch mehr an, und zum ersten Mal bekam sie hautnah mit, wie es sich anfühlte, neben mir auf dem Scheiterhaufen zu stehen.
Dabei konnte ich es ihr nicht verübeln, dass sie schwänzte. Sie hatte ja keine Ahnung, was zwischen Scott, Nash und mir wirklich vorgefallen war. Höchstwahrscheinlich hatte sie Laura den Mist, den sie verbreitete, tatsächlich abgekauft.
„Kümmere dich gar nicht um die“, sagte Emma, als zwei Unterstufler tuschelnd zu uns herüberstarrten. „Die sind nur sauer, weil ihr eigenes Leben so langweilig ist, dass keiner darüber redet“, sagte sie so laut, dass es alle hören konnten.
Mrs Knott räusperte sich daraufhin vernehmlich, und Emma widmete sich schweigend ihrem Testbogen. Nur um kurz darauf, als sich die Lehrerin weggedreht hatte, weiterzuquatschen. „Ich mach mir echt Sorgen um Doug“, flüsterte sie. „Er hat heute Morgen den Englischtest geschwänzt.“ Seit Scott in der Schule ausgeflippt war, ließ sie Doug kaum noch aus den Augen, weil sie Angst hatte, ihm könnte dasselbe passieren. „Er isst kaum noch was. Und so blöd das auch klingt, er hat immer kalte Hände.“
Ich lächelte beruhigend. Warum sie beunruhigen, wenn sie ihm sowieso nicht helfen konnte? „Das muss ja nichts bedeuten, Em. Nash hat auch immer kalte Hände, und er …“
Nein. Ich kniff die Augen zu, schluckte schwer. Das war reiner Zufall. Nash war nicht auf Drogen! Im Gegenteil, er half mir dabei, Frost aus der Welt zu schaffen. Für immer. Er wusste, wie gefährlich das Zeug war, und verabscheute es genauso wie ich, den Atem eines Hellion zu inhalieren.
Aber Doug nahm Frost, und er würde daran sterben.
Ich hatte Emma die Wahrheit über Frost verschwiegen, selbst nach der Episode mit Scott. Denn Dad und Harmony waren sich einig gewesen, dass Emma immer noch am sichersten war, wenn sie über Everett und seinen Unterweltdealer möglichst wenig erfuhr. Aber wie sie so dasaß und sich über den
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