Haltlos
machtlos zu sein, bedeutete keinesfalls wehrlos zu sein. Alles brach über ihm zusammen. Zuerst kamen die Träume von Tessa. Es fiel ihm zunehmend schwerer diese mentale Verbindung zu blockieren, ihr so weiterhin den Zugang zu seinem Geist zu verwehren. Dann tauchte Samira wie aus dem Nichts auf, um an den alten Wunden zu rühren. Er hatte damals seinen Schöpfer verloren. Vincent hatte ihn alles gelehrt, ihm verdankte er sein Dasein. Vincent war für seine Brutalität und Unbarmherzigkeit berüchtigt. Er lehrte Cillian mit der Angst seiner Gegner zu spielen, sie immer wissen zu lassen, wozu man selbst fähig war. Nach seinen ersten Jahren als unbändiger junger Novize, tat Cillian es Vincent zumindest was den Ruf betraf gleich. Cillian war ein gnadenloser Jäger geworden, der nicht einen Funken Mitleid für seine Opfer empfand. Er schändete, tötete und verwüstete. Die Welt veränderte sich und so veränderten auch die Vampire ihre Lebensweise. Im brutalen Mittelalter konnte man sehr leicht grausam verstümmelte, blutleere Leichen loswerden. Mit Einzug der Zivilisation wurde es zunehmend schwieriger. Um nicht aufzufallen spezialisierte sich der überwiegende Teil der Vampirbevölkerung darauf, die „Spender“ nicht zu töten, sondern ihnen lediglich eine gewisse Menge Blut abzuzapfen, um sie danach wieder ihres Weges ziehen zu lassen. Die Opfer konnten sich in der Regel an diese Übergriffe nicht erinnern. Cillian bevorzugte vorwiegend seinem Äußeren entsprechend junge weibliche und willige Frauen für diese Zwecke zu missbrauchen. Menschen bezeichnete er üblich als Blutbeutel oder lebend Futter. Cillian schlang sich das Handtuch um die Hüften und stand mit prüfendem Blick vor dem Spiegel. Nein, sein Alter konnte man ihm in der Tat nicht ansehen. Er konnte in viele Rollen schlüpfen. Einmal war er Student, einmal junger erfolgreicher Unternehmer, der Surfer auf durchreise oder sogar manchmal ein Regierungsbeamter in inoffizieller Mission. Leichtgläubige Opfer fielen normalerweise auf die plattesten Lebensläufe rein. Sein wahres Alter blieb dennoch allen verborgen. Nur seine Augen verrieten etwas anderes. Sie waren stumme Zeitzeugen seines Lebens und konnten Bände voller Gräueltaten berichten. Sein Handy klingelte. „George, schieß los.“ „Das Mädchen heißt Tessa Samuels, ist 18 Jahre alt, ist Vollwaise, kommt aus Baltimore und ist steinreich. Vor gut zwei Monaten ist sie zusammen mit einer Freundin nach Berlin geflogen. Dort trennten sich nach einigen Tagen ihre Wege. Ihre Freundin setzte die Reise nach Frankreich fort, während Tessa in einem Vorort von Berlin verweilte. Wie und warum sie beim Orden gelandet ist und anscheinend sogar mit denen zusammen arbeitet weiß niemand. Vielleicht haben diese reichen Kids ja ´nen neues Hobby entdeckt, Vampire jagen und bis zur endgültigen Erlösung foltern. Nett.“ Cillian nahm sämtliche Fakten auf, hörte George aber nicht länger zu. Tessas Präsenz war in diesem Moment zu prägnant. Sie jagte mit dem Orden? Warum tat sie so etwas? Lag es daran, dass er sie aus seinen Träumen ausgesperrt hatte? War sie verrückt geworden? Er dachte bis vor wenigen Sekunden, sie zu kennen. Er beobachtete Tessa schon eine ganze Weile. Sie liebte es bei ihrem Vater auf dem Schoß zu sitzen und lauschte all seinen Ausführungen rund um das Thema Vampire und deren Existenz in Literatur und Realität. Sie war genau wie ihr Vater von seiner Spezies fasziniert. Jetzt sollte sie dem Orden bei deren Beseitigung helfen? Das konnte und wollte er nicht glauben. Er musste unbedingt wissen, was dort vor sich ging. „Danke George, ich melde mich wieder.“ Cillian legte sein Handy weg, schlug mit seinen Fäusten auf den marmornen Waschtisch und fuhr sich danach durch die Haare. Unschlüssig, was er tun konnte, ging er ins Schlafzimmer, zog eine schwarze Sporttasche unter seinem Bett hervor und warf achtlos ein paar Anziehsachen hinein. Er war aufgebracht und in einer gefährlich Stimmung.
15.
„Wo bringst du mich denn jetzt schon wieder hin, Connor. Verrate es mir doch bitte endlich, sonst bleibe ich auf der Stelle stehen. Und überhaupt, weiß Francis davon, dass du mich aus den Klosteranlagen wegschaffen willst?“ Tessa, die bis vor wenigen Minuten den sonnigen Tag in den himmlisch angelegten Gärten des Klosters an einen Baum gelehnt und in ihren Roman vertieft, genossen hatte, wurde von Connor aus ihrer Fantasiewelt des Geschriebenen herausgerissen. Er tauchte aus heiterem
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