Halva, meine Sueße
als der Bäcker mit
seinem Lieferwagen im Rückwärtsgang in der kleinen Gasse
vor dem Café vorfuhr.
»Bist du bereit?« Halva stand auf.
Auch Miryam erhob sich. »Ja. Ich bin bereit. Für ein neues
Leben. Wann geht es los?«
»Jetzt«, lächelte Halva ermutigend und sperrte dem Bäcker
und seinem jungen Gesellen, der drei Plastikkörbe voll
Naan- und Pitabrot übereinandergestapelt trug, die Tür auf.
Ihre Hände zitterten. Miryams Geschichte ging ihr näher,
als sie es vor ihr hatte zugeben wollen. Dabei wusste sie
nicht, was sie am meisten erschütterte: die ungeahnte Tiefe
von Miryams Gefühlen dem jungen Mann gegenüber, ihr
unüberlegter Angriff auf die Braut oder die überlegte Grausamkeit
von Miryams Mutter.
»Guten Morgen, Halva!«, sagte der Bäcker. Sein junges
freundliches Gesicht war rot vor Kälte, er war wie immer
sauber rasiert und seine blauen Augen strahlten unter einem
Schopf dunkler Haare.
»Guten Morgen, Herr Niebusch. Kommen Sie rein.« Halva
schenkte beiden Männern ein freundliches Lächeln. »Das ist
meine Tante, Miryam Mansouri. Sie wird sich ab jetzt morgens
um die belegten Brote kümmern.«
»Ihre Tante?« Der Bäcker musterte Miryam anerkennend. »Na, so eine junge und hübsche Tante möchte ich auch in
meiner Familie haben.«
»Was hat er gesagt?«, fragte Miryam auf Farsi und ihr Blick
glitt nervös zwischen dem Bäcker und Halva hin und her.
Halva übersetzte und Miryam errötete bis unter die Haarwurzeln.
»Also habe ich doch richtig verstanden«, sagte sie dann und schüttelte den Kopf. »Sag ihm, er soll keinen Unsinn
reden, sondern das Brot in die Küche bringen.« Halva
unterdrückte ein Lächeln. Es war schön zu sehen, dass Miryam
sich über das Kompliment freute. Sie gab die Anweisung
in etwas freundlicherer Wortwahl an den Bäcker und seinen
Gesellen weiter.
Als beide Männer an ihr vorbeigingen, sog sie genüsslich
den Geruch der frischen Brote ein, die sie nach hinten in die
Küche trugen.
»Das nächste Mal musst du ihm das selber sagen, Miryam. Wozu hast du denn Deutsch gelernt?«
Miryam lächelte. »Langenscheidt lebe lang.«
»Lang lebe Langenscheidt!«, verbesserte Halva sie, als der
Bäcker wieder aus der Küche kam und sein Geselle ihm hinterherstolperte.
»Auf Wiedersehen, die Damen. Bis morgen, Frau Mansouri!
«, sagte er zu Miryam. »Ich freue mich.«
»Ja. Sehenwieder«, sagte Miryam tapfer.
Halva und Miryam hatten sich in der Küche den Rücken
zugedreht und arbeiteten nebeneinander her. Miryam richtete
die Füllungen für das Pita- und Naanbrot an und schnitt
dafür Berge von kaltem Huhn, Avocado, Pinienkernen,
Schafskäse, gegrillten Auberginen und Petersilie klein.
»Fühlst du dich nie allein hier, so früh morgens?«, fragte
Miryam, als Halva die Zutaten für die Halva bereitstellte.
»Hm? Nein.«
»Nie?«
»Nein.«
»Weshalb bist du so einsilbig?«
»Weil ich Halva zubereite und mich konzentrieren muss.«
»Aha. Tut mir leid.«
Miryams Stimme klang gekränkt, doch Halva achtete
nicht darauf. Wenn sie Halva zubereitete, dann richtete sie
all ihre Sinne auf diese Aufgabe.
Sie steckte sich die Hörer ihres iPods in die Ohren. Heute wählte sie iranische Musik: Der schnelle Rhythmus, die Pausen
zwischen den Melodien und das Zusammenspiel der Instrumente
brachten ihre Seele zum Klingen, wie es für gute
Halva notwendig war. Musik flutete in ihren Kopf und erleuchtete
sie von innen. Ohne Musik konnte sie nicht leben.
Ob es, wie heute,
Googoosh
war, die Raya aus Heimweh Tag
und Nacht laufen hatte, oder die Schallplatten damals im
Iran, die Mudi vom Schwarzmarkt mit nach Hause gebracht
hatte (»Wow, ich habe die neue Jichael Mackson«, sagte er
einmal …). Vielleicht tanzte sie deshalb so gerne? Halva erinnerte
sich noch an das Kratzen der Nadel auf dem Vinyl
und das Knistern in den Lautsprechern. Eine andere Welt,
eine andere Zeit. Aber die Musik blieb. Sie schloss kurz die
Augen, als ihre Fingerkuppen sanft über die Zutaten für die
Halva strichen. Sie zog sich vollkommen in sich zurück, ging
in ihrem Innersten spazieren und lotete sich aus.
»Halva ist eine Botschaft«, hatte Mamii gesagt, als sie
an dem Morgen vor zehn Jahren die Lakritzstange zerteilt
hatte. Lakritz:
So schwarz wie meine Stimmung, wenn ich daran
denke, dass ihr geht, aber so glänzend wie deine Zukunft in dem
fremden Land. So bitter wie meine Tränen bei unserem Abschied,
aber süß wie meine Hoffnung für dich.
Traurigkeit schwoll in Halva an. Die Musik machte es
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