Halva, meine Sueße
nur entschuldigend die Schultern. »Ich wollte noch
bleiben, um mein Praktikum zu besprechen …«
Cyrus seufzte vernehmlich und Mudi verstummte.
»Sorry, Baba«, sagte er dann.
Cyrus wandte sich wieder Halva zu. »Und hat er sich benommen?
«
»Baba!«, sagten Mudi und Halva gleichzeitig.
Cyrus zuckte mürrisch mit den Achseln und schwieg. Raya
schüttelte unmerklich den Kopf, und Halva musste sofort an
das Gespräch denken, das sie am Vorabend belauscht hatte.
Ihr wurde unwohl. Ihre Mutter sah sehr blass aus.
»Natürlich hat er sich benommen, Baba«, sagte Halva
dann etwas friedfertiger. Wer wusste, womit sich ihre Eltern
gerade herumschlugen und was sie von Mudi und ihr fernhalten
wollten. »Was denkst du denn?«
Er hat nur seine Finger um meine gelegt und will, dass unsere
Lippen wie die Hände tun.
Ihr wurde wieder heiß, während sich gleichzeitig auf ihren
Armen eine Gänsehaut bildete. Unwillkürlich berührte sie
ihre Lippen und Cyrus zog die Augenbrauen hoch. Halva
senkte schnell die Hand. Sie wollte alles noch einmal erleben:
den Augenblick, als sich ihre Hände auf dem Türrahmen
berührt und ihre Finger sich verflochten hatten. Die
Erinnerung daran brachte ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Und heute hat er nicht angerufen!, mahnte sie sich. Der
Gedanke versetzte ihr wieder einen schmerzhaften Stich.
Vielleicht hatte er stattdessen diese Blondine von der Party
getroffen? Halva schluckte. Das andere Mädchen war ihr wie ein Model vorgekommen. Alles an ihr schien vollkommen.
Wie sollte sie – dunkelhaarig und unscheinbar – Kai da
überhaupt ins Auge stechen? Natürlich, das musste es sein!
Welche Chance hatte sie schon gegen so jemanden? Was
hatte sie sich nur eingebildet? Nein, korrigierte sie sich. Da
war mehr gewesen.
Mehr,
als das Auge erfassen konnte.
»Alles in Ordnung, Halva?«, fragte Cyrus sie und seine
Stimme klang besorgt.
»Ja, Baba. Alles in Ordnung.« Halva erhob sich von ihrem
Kissen und küsste Cyrus auf die raue Wange. Er schenkte
ihr ein warmes Lächeln.
»Mein Mädchen. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen
kann.«
»Immer, Baba.«
Als sie am Abend ins Bett ging, piepste ihr Telefon. Halva
bekam es mit einem Hechtsprung zu fassen.
1 neue Nachricht Hannah,
sagte die Anzeige.
Ich bin es nur, sorry. Habe vorhin mit den Kids gebacken. Mehl
im Auge und Ausdrücke im Ohr, die ich bisher nicht kannte! Jugend
von heute! ;-)
Halva lächelte kurz und legte das Handy weg. Vermutlich
würde sie nichts verpassen, wenn sie das Telefon einfach ausschaltete
…
Kurz darauf wälzte sie sich unruhig im Bett hin und her.
Gestern Abend war sie sich so sicher gewesen: Er würde sie
anrufen. Sie konnte Ja oder Nein sagen. Aber plötzlich hatte
sich das Blatt gewendet. Sie fühlte sich Kai und mehr noch
ihren immer stärker werdenden Gefühlen hilflos ausgeliefert.
Sie versuchte, die Tränen hinunterzuschlucken, aber sie liefen ihr brennend über die Wangen. Halva fing ihren
salzigen Geschmack mit der Zungenspitze auf … Ihr Herz
lag schwer wie ein Felsbrocken in ihrer Brust und sie konnte
kaum atmen. Sie hatte ihn warten lassen wollen und saß
nun in ihrer eigenen Falle gefangen. In der aufregendsten,
quälendsten, unentrinnbarsten Falle der Welt.
Es war sehr kalt, als Miryam und Halva am Montagmorgen
beim Café in der Karlstraße ankamen. Sie hatten die Köpfe
tief zwischen die Schultern gezogen, die roten Nasenspitzen
in dicken Schals und die Hände in ihren Jackentaschen vergraben.
Die Schaufenster der Annastraße, die sie vom Königsplatz
kommend durchquerten, waren noch dunkel. Im
Schutz der Ladeneingänge lagen einige Obdachlose, unförmige
Bündel in Schlafsäcken und mitleiderregenden Zelten
aus Pappe. Die Glocken der Stadt schlugen vier Uhr, als sie
am Café ankamen. Die Kathedrale im Süden der prächtigen
Maximiliansstraße klang gegen St. Afra im Norden an.
Riefen sie schon jemanden zum Gebet?, wunderte sich
Halva und dachte an den Ruf des Muezzins über den Dächern
Teherans. Die erste Aufforderung zum Gebet, der
Adhan,
erfolgte dort um fünf Uhr morgens, im Sommer wie
im Winter.
Allahu akhbar … Allah ist der Größte … Ich bezeuge,
es gibt keinen Gott außer Allah!
Selbst daheim in der kleinen Wohnung in der Friedberger
Landstraße knieten Mudi und ihr Vater in einer Stunde
auf ihren Teppichen, die sie gen Mekka ausgerollt hatten.
Raya, Miryam und Halva beteten getrennt von Mudi und
Cyrus. Ihr Gebet, das gemurmelte Mantra der immer gleichen
Worte, und die
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