Halva, meine Sueße
sein. Der Schnee war in der Mitte vielleicht
doch noch weich, was sie weder sehen noch fühlen konnte.
Dann musste sie noch einmal von vorn anfangen und die
Vitrine mit der Halva wäre zur Ladenöffnungszeit leer. Sie
schob sich das Brett aus Olivenholz zurecht. Auf seiner glatten
Oberfläche glitt die Halva später beim Schneiden einfach
von der Messerklinge und blieb nicht am Brett kleben.
Ihre Finger strichen sanft über die elegante Maserung,
und sie konnte nicht anders, als an Kais Haut zu denken.
Wie glatt und kühl sich das Holz unter ihren Fingerspitzen
anfühlte. Sie schloss die Augen.
Dass auch die Lippen wie die
Hände tun.
Sie schluckte vor Enttäuschung. Schluss damit.
Sie hob die Halvamasse aus der Schale und strich sie behutsam
mit einem kleinen Holzstab flach, bis die Oberfläche
makellos war. Dann legte sie das Brett in den Kühlschrank. In einer Dreiviertelstunde sollte sie die Halva schneiden
können.
Sie atmete tief durch und griff jetzt doch zu ihrem Handy. Natürlich wollte sie nur die Uhrzeit prüfen. Natürlich.
Keine Nachricht, kein Anruf.
Warum auch? Es war schließlich nachtschlafende Zeit!
Kurz nach sechs. Nur Miryam und sie waren schon wach.
Miryam, die weiter mit gesenktem Kopf Pitabrote füllte.
Halva reckte den Hals und sah aus der Küche hinaus auf die
Straße vor dem Café. In den anderen Geschäften brannte
noch kein Licht.
»Ich mache mir noch eine heiße Schokolade«, sagte sie zu
Miryam. »Willst du auch eine?«
»Gerne«, sagte die und drehte sich um. Ihre Wangen waren
leicht gerötet und ihre Augen glänzten. Sie
lebt
wieder, dachte
Halva plötzlich. Was war geschehen? Wahrscheinlich hatte
es ihr einfach gut getan, mit jemandem ihre Geschichte zu
teilen.
»Darf man dich jetzt wieder ansprechen?«, fragte Miryam.
»Hm. Weiß nicht.«
Beide lachten.
»Wann kommt Raya?«, wollte Miryam wissen.
»Um halb acht. Das ist ein Luxus, den du ihr ab jetzt
ermöglichst. Sonst macht sie meistens die Frühschicht hier.
Und wenn sie nachher kommt, gehe ich noch kurz nach
Hause und dann zur Schule. Mein erster Kurs fängt heute
erst um halb zehn an.«
»Okay, bis dahin haben wir alles fertig«, sagte Miryam
entschieden. Die Stunde der Wahrheit an diesem Morgen
hatte einen Bann zwischen ihnen gebrochen. Halva wusste nun, was los war, und Miryam wusste, dass Halva es wusste.
Das entspannte sie beide. Halva fühlte sich Miryam so nahe
wie früher in Teheran, als sie beide Kinder gewesen waren.
Kurz vor sieben holte Halva das Olivenholz-Brett aus dem
Kühlschrank. Die Halva sah vollkommen aus, wie eine weiße
Wolke ruhte sie auf dem Holzbrett. Es gab viele Arten, Halva
zuzubereiten. Mit mehr oder weniger Sesam, mit Maismehl
oder mit Grieß und mit Butter statt des teuren Öls – alles
Vorstellungen, die Halva schaudern ließen. Aber diese Halva
wurde nach der Art von Rayas Familie hergestellt, und sie
hatte noch nie von jemandem gehört, der dasselbe Rezept
besaß. Woher es kam, wusste sie nicht, aber Mamiis Vorfahren
hatten ihr Vermögen mit dem Handel auf der Seidenstraße
gemacht. Halva gefiel der Gedanke, dass Tausende
von Jahren und Kilometern ihren Weg in dieses Konfekt
gefunden hatten. Mamii wäre auch heute mit ihr zufrieden,
dachte sie.
Selbst
heute. Sie schnitt die Halva sorgsam in
Stücke und verteilte sie auf verschiedenen Tellern und Tabletts,
die sie sich bereitgestellt hatte. Dann sah sie sich um.
Womit wollte sie die Halva belegen? Cranberries? Pistazien?
Eingelegten Kirschen? Orangeat?
Alle Farben schienen ihr zu froh. Es war
ihre
Halva. Sie
sollte sagen, was
sie
empfand. Halva war eine Botschaft.
Sie warf einen Blick auf ihr Handy, das weiter dunkel und
stumm blieb, und griff zu dem Glas mit Mandeln. Auf jedes
Stück Konfekt kam eine Mandel, denn so war ihre Stimmung:
dumpf und mandelbraun.
Die Tabletts schob sie in die Vitrinen, die Teller gehörten
auf die Regale im Schaufenster und sollten die Passanten ins Café locken. Als sie die Teller ins erste Tageslicht drehte, kam
ihr auf einmal ein Gedanke: Konnte sie mit derselben Leidenschaft
empfinden wie Miryam? Wollte sie einer anderen,
die ihr den Mann wegnahm, so schaden? Könnte sie diese
Blondine vom Freitag genauso hassen, wie Miryam Aischa
gehasst hatte?
Es klopfte an die Fensterscheibe des Cafés und Halva sah
auf – mitten in Kais Augen hinein, die an dem kalten Oktobertag
warm leuchteten.
Kai, der vor dem Schaufenster des Cafés stand, mit einem
Strauß bunter Luftballons in der Hand. Die Farben
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