Halva, meine Sueße
wellenartigen Bewegungen der Körper
bereiteten sie dabei auf den Tag vor. »Es reinigt mich«, sagte
ihr Vater oft. »Es macht mich stark für alle Widrigkeiten,
die der Tag bringen mag, und es öffnet meinen Geist für alle
Freude, die Allah für mich bereithält. Gebet ist Disziplin und
die Disziplin erlaubt mir zu leben.«
»Da sind wir«, sagte Halva und zückte den Ladenschlüssel.
Als sie eintraten, klingelte über ihrem Kopf eine kleine
Glocke. Halva schaltete das Licht an und die beiden sternförmigen
Lampen aus buntem Glas füllten den Raum mit
einem gemütlichen Glanz. Halva drehte die Heizung auf.
»Es wird gleich warm. Lass mich Licht in der Küche machen
«, sagte sie. »Der Bäcker müsste auch jeden Moment
kommen.«
Miryam schaute sich scheu im Laden um. In der letzten
Woche hatte sie sich ganz in der Wohnung verkrochen und
Raya und Cyrus hatten sie gelassen. Schließlich musste sie
sich einleben. Aber nun hatten Halvas Eltern entschieden,
dass es für Miryam an der Zeit war, ihren Kokon zu verlassen.
Auch Halva ließ kurz ihren Blick durch den Laden schweifen.
Die beiden Vitrinen, in denen sonst Pasteten mit goldener
Kruste, Eintöpfe aus Fleisch, Fisch und Gemüse, knackige
Salate, cremige pastellfarbige Füllungen, delikat belegte
Naan- oder Pitabrote, süße Kuchen und Gebäck lagen, waren
leer und vom Samstagabend ebenso sauber geschrubbt wie der blanke Holzfußboden. Nahe den großen Fenstern des Cafés
standen einige runde Tische mit schwerem gusseisernem Fuß
und einer runden Marmorplatte. Die Kunden aßen daran ihr
Mittagessen und nahmen oft anschließend noch etwas für
zu Hause mit.
Halva zog die Hülle von der Kasse und tippte den Code
ein, um sie aufzusperren. Miryam stand noch immer schweigend
und blass in der Mitte des Cafés.
»Alles klar? Gefällt es dir?«
Miryam nickte. Tränen schimmerten in ihren Augen und
Halva seufzte. Was quälte sie so? Sie nahm ihre Tante behutsam
in den Arm. An Miryams Schultern spürte sie jeden
Knochen. Was war nur aus ihrer Tante geworden?, dachte
Halva. Dreiundzwanzig Jahre jung, blass und dünn und von
etwas Schrecklichem durch die dunkle, kalte Nacht getrieben.
Wer hatte ihr das angetan?
Halva war sich sicher, dass der Spaziergang Freitagnacht
nicht der erste seiner Art gewesen war.
»Was ist bloß los mit dir«, murmelte sie in Miryams Haar
und wiegte sie sachte. »Willst du es mir nicht sagen? Du
kannst mir vertrauen. Wir kennen uns doch ein Leben lang.
Wem sonst kannst du alles sagen, wenn nicht mir?«
Miryam wischte sich die Augen. »Nichts. Es ist nichts. Ich
bin nur von allem so überwältigt und am meisten von eurer
Freundlichkeit. Ich will euch nicht zur Last fallen.«
»Miryam! Wir sind deine Familie. Du fällst hier niemandem
zur Last. Niemals! Okay?«
»Meine Mutter ist auch meine Familie und sie hat mich
ganz anders behandelt. Das kannst du mir glauben …«
Halva überlegte kurz und nickte dann. »Ich weiß. Ich kann mich an Amma erinnern, auch wenn wir sie nicht so oft gesehen
haben.«
»Weshalb eigentlich nicht?«
Halva zuckte die Achseln. »Sie war ja bloß Babas Stiefmutter
und hat sich mit Mama nicht verstanden. Wieso,
weiß ich auch nicht.«
»Ich denke, sie war auf Raya eifersüchtig«, antwortete
Miryam. »An allem hatte sie etwas auszusetzen: Rayas Herkunft,
ihr Geschmack, ihre Eleganz. Erst als sie mich loswerden
wollte, kamen ihr Cyrus und deine Mutter gerade
recht.«
»Sie wollte dich
loswerden?
«, fragte Halva. Hatte ihre Mutter
nicht gesagt, sie hatten Miryam
gerettet?
Miryam fiel es sichtbar schwer weiterzusprechen. »Du
weißt doch, sie hat wieder geheiratet. Da musste sie mich
freilassen.« Ihre Stimme brach.
Halva starrte sie erschrocken an. Hatte sie eben richtig
gehört? »Wie bitte? Sie musste dich –
freilassen?
«
Miryam streckte ihr die Hände entgegen, deren Haut so
hell war, dass ihre Adern sich darunter dunkelblau abzeichneten.
Halva sah auf die vielen kleinen Narben daran und
erschauerte.
»Was ist passiert, Miryam?«, flüsterte sie und sie bemerkte,
wie ihre Stimme leicht zitterte.
Miryam sank auf einen der Stühle und schien in sich zusammenzufallen.
Ihre magere Gestalt krümmte sich und ihr
Atem kam stoßweise.
»Hüte dich vor Frauen, Halva. Sie sind viel gefährlicher
und gemeiner als Männer, das steht fest.«
Halva wartete, bis Miryam sich etwas gefasst hatte. »Was hast du denn angestellt?«, fragte sie dann doch, während
ihre Tante gegen die Tränen ankämpfte.
»Ich war
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