Halva, meine Sueße
dachte
Kai, als Mudi und er stadteinwärts rollten. Eigentlich alles,
worum es im Leben ging. Liebe. Freundschaft. Familie. Vertrauen.
Versprechen. Mut. Freiheit. Doch es war so viel, dass
sie jetzt, in diesem Auto, einfach keine Worte dafür fanden.
Kai parkte in der Parallelstraße hinter dem Maria-Theresia-
Gymnasium.
»Also, bis morgen«, sagte er und hoffte, dass Mudi wirklich
in Richtung Rathausplatz abziehen würde. Aber er machte
keinerlei Anstalten. Kai fiel erst jetzt auf, dass sein Freund
unter der offenen Jacke eine Jeans, Hemd und Pulli trug.
Gerade Mudi würde niemals so salopp gekleidet zu einem
Vorstellungsgespräch gehen, selbst wenn es nur um ein Praktikum
ging.
»Ich komme noch eben bis zur Schule mit«, sagte Mudi
gelassen.
»Weshalb? Du muss doch zu der Kanzlei, oder?«
»Ich habe noch eine Dreiviertelstunde Zeit. Da kann ich
Halva Hallo sagen. Das ist doch wohl noch erlaubt, oder?«
Kai wusste nicht, was er sagen sollte. Er war Mudi in die
Falle gegangen und kochte vor Wut. »Klar«, sagte er erstickt
und ging Mudi voran. Er konnte seinen Anblick kaum ertragen.
Wenn es jetzt gleich zum Showdown kam, dann war
das eben so. Keep smiling? Nicht mit ihm. Er war doch kein
Hampelmann.
An Halvas Schule waren die Türen noch geschlossen. »Ich
warte hier, okay?«, sagte Mudi und schwang sich auf die
Mauer vor der Bibliothek gegenüber vom Gymnasium. Er
zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kragen hoch
und steckte seine Hände in die Taschen.
Kai zuckte mit den Schultern. »Tu, was du nicht lassen
kannst«, sagte er kalt. Er selbst lief weiter auf die Jugendstil-Villa zu, in der die Kollegstufe des MT untergebracht war.
Dabei spürte er Mudis Blick in seinem Rücken und drehte
sich noch einmal um. Der Freund sah ihm ernst, aber auch traurig nach. Kai stockte kurz. Weshalb gab ihm Mudi diesen
kleinen Vorsprung, in dem er Halva allein sprechen konnte?
Er begriff: Mudi verstand Kai und Halva, aber handelte doch
im Sinne seiner Eltern. Wie paradox!, dachte Kai bitter. Er
war Mudi dankbar, doch gleichzeitig machte ihn das Gefühl
zornig. Er musste
niemandem
dankbar sein!
Mudi tippte jetzt auf seinem Handy herum. Seine scheinbare
Gelassenheit reizte Kai aufs Unerträgliche. Er spürte,
dass sein Freund ihn nicht aus den Augen ließ, auch wenn er
es vor ihm zu verbergen versuchte.
Halva, wo bist du? Komm doch endlich raus!
Vielleicht täuschte sich Halva, dachte er plötzlich.
Hoffte
er plötzlich. Vielleicht hatte Mudi von all dem, was hier
geschah, tatsächlich keine Ahnung. Vielleicht hatte Halva ja
wirklich Zucker mit Salz verwechselt, als sie die zehn Bleche
Halva zubereitete. Vielleicht war Mudi ja noch immer sein
Freund
und
gleichzeitig Halvas großer Bruder, mit dem sie
sich gut verstand. Klar war das nicht leicht für ihn, wenn sein
Freund sich auf einmal in seine Schwester verliebte. Deshalb
hatte er sie zu der Trennung von ihm aufgefordert. Das war
alles.
Vielleicht, so hoffte er, hatte sich nichts geändert.
Alles Quatsch, wusste er tief in seinem Inneren.
Weshalb konnte nicht einfach alles so sein, wie er es sich
wünschte?
Kai atmete tief aus und es schmerzte in seiner Brust.
In der Schule schrillte nun die Glocke, die das Unterrichtsende
verkündete. Die Flügel der großen Doppeltür im
Hauptgebäude wurden geöffnet, und die jüngeren Schüler
quollen aus dem Haus, ein Durcheinander aus bunten Mützen und hellen Stimmen, sorglos über die Schulter geworfenen
Taschen und schlenkernden Sportbeuteln.
Sorglos. So war er auch vor Kurzem noch gewesen. Heute
Morgen noch, dachte Kai. Wann hatten die Sorgen begonnen?
Um Punkt genau 7.31 Uhr, als Halva ihm im
Café Drexl
den Brief gezeigt und ihm gesagt hatte, was darin stand. Er
schloss die Augen und sah den Moment wieder vor sich.
Ihre Hände, die sich umeinanderschlangen, ihre geflüsterten
Worte, Halvas Tränen, während ihr Frühstück unberührt
blieb, das iranische wie auch das Augsburger.
In diesem Augenblick kam Halva aus der Schule. Sie
knöpfte gerade ihren Mantel zu und wickelte sich den Paschmina
um den Hals. Seine Farbe ließ ihre dichten schwarzen
Haare leuchten wie eine Vogelschwinge.
»Halva!«, rief er.
Mudi sah auf. Er steckte sein Handy weg und rutschte
langsam von der Mauer herunter, aber blieb noch auf der
Stelle stehen.
»Kai!« Halva lief ihm entgegen.
Kai vergaß alles um sich herum und öffnete seine Arme.
Sie halten, sie halten für immer, schlug sein Herz. Sie flog
zu ihm hin und er hob sie auf,
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