Halva, meine Sueße
doch nichts anhaben, wenn dein Vater sein
Wort nicht halten will.«
Doch das ließ Halva selbst nicht gelten. Sie verstand, was
ihren Vater band, auch wenn sie ihm nicht nachgeben wollte.
Aber gab es denn einen besseren Grund für den Wegfall der Geschäftsgrundlage als das, was zwischen Halva und ihm
war? Halva und er
liebten
einander. L I E B T E N, kapierten
die Leute das nicht?
Aber vielleicht war das diesen Menschen ja ganz egal. Diesen
Menschen: Das waren Mudi und Halvas Vater – ihre
Familie. Wenn er so von ihnen dachte, dann war er kaum
besser als sein Vater, den er seit der Auseinandersetzung vor
dem Kamin nicht mehr gesehen hatte.
Kai hatte einen bitteren Geschmack im Mund und musste
würgen. Er dachte daran, wie es war, Halva nahe zu sein.
Wie es gewesen war, sie heute Morgen bei ihrem Abschied
im Arm zu halten.
Sie
liebten
einander. Nichts auf der Welt war ihm so wichtig,
so wertvoll wie sie. Damit waren doch alle anderen Vereinbarungen
null und nichtig. Ganz egal, zu welchem Zeitpunkt
oder von wem sie getroffen worden waren!
Er sah auf sein Blatt Papier und das Gekritzel begann
vor seinen Augen zu verschwimmen. Er dachte an Halvas
schmales, blasses Gesicht am Morgen. Ihren Mut, ihre Haltung,
als sie ihm von dem Inhalt dieses verdammten Briefes
erzählt hatte. Nur über seine Leiche würde sie in den Iran
reisen und einen anderen Mann heiraten!
Plötzlich erfasste ihn die Sehnsucht nach ihr wie eine
Welle. Er wollte bei ihr sein, sie halten, ihr zuhören, ihr zeigen,
dass er für sie da war, immer, immer, immer. Was hockte
er denn noch hier in diesem Seminar? Er war ganz entschieden
zur falschen Zeit am falschen Ort. Er wollte von nun
an immer bei Halva sein, um zu verhindern, dass ihr etwas
geschah. Um sie zu beschützen: vor allen, die ihr schaden
wollten.
Kai sah abermals auf seine Uhr. Es war kurz nach drei. In
einer halben Stunde endete Halvas letzter Kurs. Er wollte
sie nicht warten lassen und begann, leise seine Sachen zu
packen, doch Mudi hob den Kopf.
»Gehst du schon?«, flüsterte er. Seine Augen waren im
Gegenlicht so dunkel, dass Kai ihren Ausdruck nicht lesen
konnte.
Kai nickte widerstrebend. Warum zum Teufel konnte
Mudi nicht am anderen Ende des Raumes sitzen?
Stimmte es, was Halva gesagt hatte? Dass Mudi jedes Treffen
zwischen ihnen verhindern wollte? Pustekuchen. Nicht
mit ihm. Er hob das Kinn und sah seinen Freund herausfordernd
an. »Ja, ich habe Halva versprochen, sie abzuholen.«
Mudi zögerte kurz. Sein Blick ging zwischen dem Dozenten
und Kai hin und her, bevor er seine Entscheidung traf.
»Kann ich mitkommen? Ich muss eh in die Stadt«, sagte er
dann und begann sogleich, Schreibblock und Stift einzuräumen.
»Nein, das kannst du nicht«, antwortete Kai, ohne nachzudenken,
und Mudi sah ihn irritiert an. Er zog die Augenbrauen
hoch und sie musterten sich gegenseitig. Die Zeit
tropfte.
Kai erschreckte der Ernst in Mudis Augen, doch er war
entschlossen, ihm die Stirn zu bieten. Nicht mit ihm. Nicht
so und auf diese Weise.
»Okay …«, sagte Mudi gedehnt. »Und warum nicht, wenn
ich fragen darf?«
Weil du dich wie im finstersten Mittelalter benimmst.
Weil ich dich, deine Familie und jeden Menschen auf der
Welt umbringe, wenn ihr Halva zu irgendetwas zwingt, dachte Kai, doch stattdessen hörte er sich mit brüchiger Stimme
sagen: »Wir wollen spazieren gehen, Halva und ich. Drei sind
einer zu viel. Verstehst du doch sicher, oder?«
Mudi hatte sich wieder gefasst. »Wird das jetzt so ernst
zwischen meiner Schwester und dir?«, fragte er kühl. Kai
nickte. Ja, das war es.
So ernst.
»Ich hindere euch nicht am Spazierengehen. An eurem
Geturtel habe ich kein Interesse. Aber ich habe heute Nachmittag
in der Kanzlei von Alexanders Vater ein Vorstellungsgespräch.
Für mein Praktikum. Du weißt schon. Vom Maria-
Theresia-Gymnasium aus kann ich ganz einfach dorthin
laufen.«
Kai seufzte. Konnte er Mudi trauen? Sein Freund sah ihn
abwartend an. Kai
wollte
ihm so gerne glauben!
»Okay. Komm mit. Ich setze dich dort ab«, sagte er schließlich.
»Danke. Nicht nötig. Vom MT aus kann ich laufen, da
musst du keinen Umweg fahren«, wiederholte Mudi und
packte seine Sachen.
»Natürlich«, entgegnete Kai und sah auf seine Armbanduhr.
»Komm. Ich will nicht, dass sie warten muss.«
»Sehr ritterlich von dir, Kai. Wie immer«, sagte Mudi und
seine Stimme klang traurig.
Komisch, wie man miteinander schweigen konnte, wenn
es doch eigentlich so viel Dringendes zu sagen gab,
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