Halva, meine Sueße
Kai.«
»Ich lasse dich nicht allein«, hatte er störrisch wiederholt.
»Mir passiert nichts. Ich gehe doch nur in die Schule.«
»Ich hole dich ab, okay? Ich muss dich einfach so oft sehen
wie möglich. Wir müssen einen Ausweg finden …«
Halva war blass gewesen, als sie ihm zugestimmt hatte:
»Gut. Hol mich ab. Dann haben wir wenigstens eine halbe
Stunde zusammen.«
»Wir finden eine Lösung«, hatte Kai beharrt.
Ihr Abschiedskuss war brennend und schmerzlich gewesen.
Konnte von nun an jede Zärtlichkeit die letzte sein?
Ihm wurde kalt, und er sah nach vorn, wo der Professor, völlig
eingenommen von seinem Thema, referierte. Kai schüttelte
den Kopf und malte weiter. Was kümmerte ihn dieses
Gelaber vom Kaufrecht und wer was von wem wollte oder
eben nicht wollte?
Im
Drexl
war er beinahe an seinem Frühstück erstickt, als
er Halva zuhörte. Er malte noch einen schwarzen Kringel
und eine Fratze, die ihn an Munchs Schrei denken ließ. Gab
es denn so etwas wirklich? Einen Vater, der seine Tochter
hergab, um seine eigene Haut zu retten und damit die Familie
das Land verlassen konnte?
Die Situation erinnerte ihn an das Märchen »Rapunzel«,
das er in seiner Kindheit gerne gehört hatte: Die schwangere
Frau hatte große Lust auf das Grün, das im Garten nebenan
wuchs. Doch als der Mann es pflücken wollte, ertappte
ihn die Hexe dabei und ließ ihn nur gehen, wenn er ihr als
Preis für das Grün und seine Freiheit das ungeborene Kind
versprach.
Der Vater hielt sein Wort.
»Er hat sein Wort gegeben«, hatte Halva am Morgen im
Café Drexl
immer wieder totenblass wiederholt. »Er hat diesem Mann sein Wort gegeben. Und jetzt will er es halten.
Bijan hat ihm damals das Leben gerettet. Er hat uns alle gerettet.
Es gibt keinen Ausweg, Kai.«
Ihm wurde schwindelig. Es war so heiß im Seminarraum,
viel zu heiß. Sein Herz verwandelte sich und wurde zu einem
Stein in seiner Brust, schwer und tot. Er schluckte, doch
seine Kehle blieb trocken.
Kai schüttelte den Kopf und strich sich über die Augen.
Alles blieb, wie es gerade noch gewesen war. Unvorstellbar.
Wenn er nicht selber den Brief in Halvas Hand gesehen
hätte, hätte er es nicht geglaubt.
Mudi sah ihn kurz und besorgt an.
»Geht’s dir gut? Du siehst blass aus«, flüsterte er.
Kai starrte ihn an. Er wollte ihn einerseits am Kragen packen
und ihn schütteln, bis Mudi alle dummen Gedanken
aus dem Kopf fielen. Andererseits wollte er mit ihm sprechen,
ihn verstehen, um dann eine Lösung für Halva und
sich zu finden. Er zögerte mit seiner Antwort. Wie sollte er
sich seinem Freund gegenüber verhalten?
»Nein, nein. Alles klar. Heiß hier drinnen«, flüsterte er
zurück. Zeit gewinnen. Das war es. Mudi nickte und senkte
seinen Kopf wieder über sein Papier. Er war so konzentriert,
dass sich zwischen seinen Augenbrauen eine Falte bildete.
Genau wie bei Halva. Kai spürte, wie sich sein Magen
schmerzhaft zusammenzog. Verlor er beide? Halva, die er
liebte, und Mudi, den er in so kurzer Zeit als Freund zu
schätzen gelernt hatte?
Mudi sah noch einmal auf und lächelte ihm ermutigend
zu. »Ich habe eine Wasserflasche dabei. Willst du vielleicht
was trinken?«
Kai schüttelte schnell den Kopf. »Nein danke. Geht schon
wieder.«
Mudi selber wirkte ebenfalls nervös und abgespannt. Kai
fielen die dunklen Schatten unter seinen Augen auf. War er
zu lange aufgeblieben? Und was hatte er bis spät in die Nacht
getan? Gelesen? Oder Pläne geschmiedet, wie sie Halva zu
ihrem Unglück zwingen konnten?
Kai biss sich auf die Lippen und schluckte seine Tränen
hinunter. Nein, er konnte Mudi nicht einfach so konfrontieren.
Mudi wusste nicht, dass Halva es wusste. Und auch
nicht, dass sie ihn eingeweiht hatte.
Er musste warten, bis sich die richtige Situation zum Sprechen,
zum Streiten, zum Schlichten ergab.
Kai sah wieder nach vorn und versuchte noch einmal vergeblich,
sich auf das Thema des Seminars zu konzentrieren.
Doch irgendwie ging es heute bei allem nur um Halva. Der
Professor sprach über den »Wegfall der Geschäftsgrundlage«
im Bürgerlichen Recht und Kai dachte bitter: Genau das
brauchen Halva und ich jetzt. Einen Wegfall der Geschäftsgrundlage
in diesem verfluchten Handel, den ihr Vater vor
Jahren abgeschlossen hatte und an den er sich nun wahnsinnigerweise
tatsächlich halten wollte.
Er hat diesem Mann sein Wort gegeben.
»Na und?«, hatte er gefragt. »Das ist doch Jahre her. Und
zwischen euch liegen nun Hunderte von Kilometern. Dieser
Bijan kann euch
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