Halva, meine Sueße
Frischer,
strahlender, kräftiger Mut. Sie wusste, was heute auf
die Halva gehörte, und griff zu der Dose mit dem gezuckerten
Orangeat. Zucker, Bitterkeit und die Farbe Orange für
allen Mut und alle Kraft, die sie jetzt brauchte.
»Darf ich heute kosten?«, fragte Kai und näherte seine
Lippen abermals Halvas Mund. »Stimmt die Aussage?«
»Ja«, sagte sie entschieden und legte ihm ein frisch belegtes
Stück auf die Zunge.
Als sie das Café verließen, warf Halva Miryam, die nun die
Vitrinen füllte, noch einen verschwörerischen Blick zu. Miryam
nickte nur kurz.
Auf mich kannst du dich verlassen,
sagten
ihre Augen, ehe sie mit ihrer Arbeit weitermachte. Über ihren Köpfen klingelte die kleine Glocke und Kai legte zum
Schutz gegen die Morgenkälte seinen Arm um Halvas Schultern.
Sie schmiegte sich auf der Schwelle des Cafés an ihn,
und er küsste sie genau so, wie sie es jetzt brauchte: heiß, leidenschaftlich,
fordernd – so, als gäbe es nur sie auf der Welt.
»Gehen wir«, sagte sie mit belegter Stimme.
»Was ist denn los?«, fragte er. »Bist du traurig?«
»Das erzähle ich dir gleich.«
»Du willst aber nicht mit mir Schluss machen?«, fragte er
sie plötzlich besorgt.
»Quatsch!«, erwiderte Halva hitzig, ehe sie inniger hinzufügte:
»Niemals. Wie kommst du denn darauf?«
»Gut. Sonst muss ich wieder ins Eisloch springen und mich
ertränken«, sagte Kai und zog sie an sich. Halva schmiegte
sich an seine starke Schulter.
Sie schlang ihren Schal enger um ihren Hals, als sie vollends
aus der Tür trat und mit der Fußspitze gegen etwas
stieß. Auf der Schwelle des Cafés lag ein kleines, flaches
Paket.
»Was ist das?«, fragte sie und bückte sich.
»Sieht nach einer CD aus«, sagte Kai, als Halva es aufhob.
An dem Paket hing eine kleine Karte:
Für Halva,
stand darauf.
»Ist das von dir?«, fragte Halva.
»Nein. Wenn ich dir etwas schenken möchte, gebe ich es
dir einfach. Pack doch aus! Das muss das Geschenk eines
unbekannten Verehrers sein«, neckte Kai sie. Er klang dabei
eher amüsiert als eifersüchtig. Halva riss das Papier auf: Es
war eine CD mit den
32 best lovesongs ever.
Auf dem Cover
flogen rote Herzen verschiedener Größen umeinander. Es
sah einfach schrecklich kitschig aus.
»Hm. Wie furchtbar«, lachte Kai und betrachtete die Musiktitel.
»Der Typ scheint einen guten Geschmack zu haben,
wenn du ihm gefällst, auch wenn er von Musik keine Ahnung
hat. Da sind ja nur die schlimmsten Schnulzen aus
den Charts drauf.« Er küsste sie wieder. Alles in ihr löste
sich unter dem Druck seiner Lippen auf und floss warm und
lebendig zu ihm hin. »Kannst du dir denken, von wem das
ist?«, fragte er und grinste. »Dem brech ich alle Knochen,
wenn ich ihn erwische. Hände weg von meinem Mädchen.«
Halva lächelte schwach und schüttelte den Kopf. »Keine
Ahnung. Ich habe auch niemanden vor der Tür gesehen. Miryam
und ich hatten ja in der Küche alle Hände voll zu tun!«
Bei dem Gedanken an den Brief spürte sie Verzweiflung in
sich aufsteigen. Brennende, elendige Verzweiflung, die jede
Hoffnung und alles Glück zunichtemachte.
Kai schien ihren Stimmungswechsel nicht zu bemerken.
Er presste ihre Finger und sagte: »Na, egal. Wir können sie
uns später zusammen anhören, was meinst du? Jetzt gehen
wir erst einmal im
Café Drexl
frühstücken. Dann kannst du
mir erzählen, was vorhin los war.«
Halva schluckte. In ihre Verzweiflung mischte sich Hilflosigkeit.
Sie fühlte sich trotz Miryams Versprechen, zu ihr
zu halten, elend und allein. Wie konnte sie nur Worte finden
für das, was sie ihm zu sagen hatte?
Das Seminar war noch lange nicht zu Ende, aber Kai hatte
gefühlt schon zum hundertsten Mal auf die Uhr geschaut.
Was hatte der Professor da gerade gesagt? Ein Wörterbrei,
sonst nichts. Das Blatt vor ihm auf dem Tisch war voller
Muster. Schwarze dichte Kringel und Zickzacklinien, untermischt
mit Fratzen. Alles rauschte seit dem Frühstück im
Drexl
an ihm vorbei. Er ging wie in einem Kokon durch den
Tag und die Welt drang nur dumpf zu ihm durch. Er dachte
an den Abschied von Halva. Sie hatten sich an derselben
Stelle getrennt wie vor einer Woche, als er sie zum ersten
Mal geküsst hatte. Das schien nun ein Leben her zu sein.
»Ich lasse dich nicht allein. Keinen Augenblick mehr! Wer
weiß, was sie aushecken!«, hatte er gesagt.
Aber Halva hatte nur abwehrend den Kopf geschüttelt.
»
Sie
sind noch immer meine Familie. Niemand wird mir
etwas antun. Fahr in die Uni. Bitte,
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