Halva, meine Sueße
Kai und ihr
nur nutzen.
Er sah sie versöhnlich an und sie wollte ihm mit der geballten
Faust ins Gesicht schlagen. Aber stattdessen zuckte
sie mit den Schultern. »Kai ist mir doch inzwischen egal.
Er hat mit der ganzen Sache nichts zu tun. Es geht hier um
mich
. Und darum, was
ich
akzeptieren kann und was nicht.«
Die Worte brannten ihr im Mund, versengten ihr das
Herz, aber sie taten ihre Wirkung. Cyrus und Mudi tauschten
einen raschen zufriedenen Blick miteinander aus. Auch
Raya sah erleichtert aus und fragte schnell: »Was kannst du
denn für dich akzeptieren? Wie können wir es dir leichter
machen?«
Indem ich meine Sachen packe und ich euch nicht mehr
wiedersehen muss, dachte Halva. Aber sie wusste sofort,
dass das nicht möglich war. Ihre Familie war ein Teil ihrer
selbst. Sie konnte davonlaufen, doch diesen Teil nahm sie
immer mit. Wohin sie auch immer ging.
»Gut, dass du zur Vernunft kommst. Lass uns dir helfen«,
sagte Mudi mit gespielter Zuversicht und wollte sie umarmen,
doch Halva stieß ihn zurück. Er sah sie verletzt an. Was
hatte er denn erwartet? Dass mit einem Mal wieder Friede,
Freude, Eierkuchen herrschten? Nie wieder.
Halva starrte ihren Bruder nur mit vor Zorn funkelnden
Augen an. Dann wandte sie sich an Raya, die sie noch immer
abwartend ansah: »Lasst mich wenigstens mein Abitur machen,
ehe ich nach Teheran zurückkehre«, sagte sie leise.
Mudi schaute sie erstaunt an. Natürlich. Er kannte sie
am besten und so ein leichter Sieg musste ihn überraschen.
Halva mied seinen Blick. Gerade, weil er sie am besten kannte,
konnte er sie auch am ehesten durchschauen.
»Sicher, mein Liebling«, antwortete Raya hastig. Sie wollte
ihr über die zerwühlten Haare streicheln, doch Halva wich
der zärtlichen Geste ihrer Mutter aus. Raya ließ die Hand
sinken. »Verzeih«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
»Das ist eine gute Idee. Du kannst ja dann auch in Teheran
studieren«, sagte Baba versöhnlich. »Wenn Sharim selber
Arzt wird, hat er sicher nichts gegen eine studierte Frau.«
Halva nickte. Die studierte Frau würde dieser Sharim
sich auf einem anderen Viehmarkt suchen müssen. Aber das
musste sie ihrer Familie jetzt nicht sagen. Sie würden das
noch früh genug erfahren.
Nun hieß es, Zeit zu kaufen, dachte Halva. Sie musste sie
alle täuschen. So wie Kai und sie es verabredet hatten. Sie
wollte nur mit Kai zusammen sein und mit keinem anderen
Mann. Auf ihn war Verlass. Wenigstens konnte sie Miryam
trauen. Wie gut, dass ihre Tante ihre Freundin war.
Life
goes on for Kai and Halva,
dachte sie trotzig, als sie mit vom Weinen geröteten Augen aufstand. Baba, Mama und Mudi
blieben noch sitzen. Es war Halva egal.
In ihrer Tasche vibrierte wieder das Handy und immer
montags, immer montags, immer montags, schlug ihr Herz.
Wie jeden Montag parkte Kai seinen kleinen Mercedes,
für den er seinem Vater nun dankbar war, weil er ihn am
schnellsten zu Halva brachte, hinter dem Rathaus. Auf der
langen Treppe, die hoch zum Rathausplatz führte, nahm er
zwei Stufen auf einmal.
Kaiser Augustus stand ungerührt in der Mitte des Brunnens
und trug eine Kappe aus Schnee. Die erste Weihnachtsdekoration
leuchtete in die kalte Dunkelheit. Sterne und
Lichterketten, die ihm den Weg in die Karlstraße wiesen,
wo im Café der Mansouris bereits seit einigen Stunden die
Lampen aus buntem Glas brannten.
Ehe er die Tür aufstieß, warf er einen Blick ins Schaufenster.
Dort waren auf zahlreichen Tabletts und Tellern die
feinen, schaumigen Lagen der Halva angerichtet. Sie war
öffentlich zur Schau gestellt und galt doch nur ihm. Kai las
das Konfekt wie eine Botschaft: alle Fragen, alle Antworten,
alle Liebe und alles Leid in nur einem Stück Halva.
Wie geht es dir?,
musste er Halva nie fragen. Er kannte die
Antwort, wenn er das erste Stück in den Mund nahm. Halva
hob ihre Gefühle in den Eischnee und streute sie mit dem
Zucker in seine Höhen, bevor sie das Tablett zum Kühlen
stellte. Die Halva war sie selbst, ihr Herz, ihr Geist und ihre
Seele.
Was ist passiert?
Auch das wusste er bereits, wenn das Konfekt
auf seiner Zunge so zart wie eine Schneeflocke zerging.
Denkst du an mich?
Noch im Schlucken wusste er die Antwort.
Was für eine Frage. Es war nur eine von vielen, die er
nicht laut stellen musste. Er würde sich nie trauen, sie laut
auszusprechen.
Während Kai die Auslagen betrachtete, dachte er an die
vielen Botschaften, die Halva ihm mit dem Belag ihres Konfekts
in den letzten Wochen übermittelt
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