Halva, meine Sueße
den Bäumen
hindurch und nahm dann eine enge Kurve um einen Felsen
herum, ehe er die steile Abfahrt ins Tal hineinschoss. Es war
sein Gefühl von Freiheit. Am Ende des Tages fühlte er sich so
erfrischt und entspannt wie schon lange nicht mehr.
»Hoppla, jetzt wäre ich fast in dich reingefahren«, lachte
Selina. Sie stieß ganz aus Versehen zwei andere Mädchen
beiseite und nahm in der Liftschlange den Platz neben Kai
ein. »Was für eine Abfahrt! Normalerweise schaffe ich nur
blaue Pisten.«
»Na, dafür hast du dich aber tapfer gehalten«, sagte Kai
höflich.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie auch Mudi seinen Platz
in der Liftschlange einnahm. Es war fast Mittag und bald
trafen sich alle zum Essen auf der Hütte.
»Fahren wir noch einmal hoch?« Selina zupfte an dem
hellblauen Stirnband unter ihrem Helm und strahlte ihn an.
Die Wintersonne hatte ihr Sommersprossen auf die kleine
Nase gezaubert und ihre Augen leuchteten blauer als sonst.
Kai erinnerte sich plötzlich an die Sommersprossen in ihrem
Dekolleté, die er bei ihrem ersten Treffen bemerkt hatte. Das
schien inzwischen ein Leben lang her zu sein.
»Sicher. Wenn du noch kannst«, sagte er und half ihr in
die Spur für den herabschwebenden Sessellift.
»Sonst musst du mich eben tragen.«
»Lieber nicht. Dann enden wir noch beide in einer Lawine.«
»Ich habe vorhin einen Bernhardiner samt Fässchen um
den Hals gesehen. Wenn er uns findet, können wir wenigstens
ungestört anstoßen.«
Voll frontaler Flirt, dachte Kai, als er seinen Sitz neben
ihr im Lift einnahm und den Sicherheitsbügel über sie beide
zog. Aber irgendwie hatte er nach all den Wochen und Monaten
des schwierigen, komplizierten Beisammenseins mit
Halva nichts dagegen.
Selina war leicht und froh und er sehnte sich jetzt genau
danach.
»Herrlich hier, nicht wahr?«, wechselte er dennoch das
Thema, um die Unterhaltung in unverfänglichere Bahnen
zu lenken.
»Ja, man fühlt sich Gott so nahe.«
Diese Antwort überraschte Kai, denn er hätte ein solches
Gefühl nicht bei ihr vermutet.
Sie sah ihn an und sagte: »An einem solchen Morgen kann
man auf der Welt nichts Schlechtes vermuten, oder?«
Von einem Baum fiel gerade der Schnee glitzernd bis auf
die Piste tief unter ihnen und Kai schüttelte den Kopf.
Sie aber ließ nicht locker. »Klasse, dass du mitgekommen
bist, Kai. Ich hatte das eigentlich nicht zu hoffen gewagt.«
»Weshalb nicht?«
»Na, du hast in den vergangenen Wochen so … so verschlossen
gewirkt. Fast wie ein Schlafwandler. Du hattest
die Augen offen, doch deine Gedanken waren irgendwie weit
weg.«
Kai schwieg. Selinas Ehrlichkeit gefiel ihm, aber sie verwirrte
ihn auch. Er las in ihr wie in einem offenen Buch.
Aber war es denn so wichtig, alles ganz genau zu wissen?
Halva war immer ein Rätsel, eine Herausforderung. Wenn
er montags zu ihr ging, wusste er nie, was ihn erwartete, und
es war jedes Mal aufs Neue anders – etwas Besonderes. Die
Worte gingen ihm nie aus. Das gefiel ihm.
Selina jedoch redete schon weiter. »Weißt du, ich habe mir
oft gewünscht, es wäre wieder der erste Tag in der Uni und
wir laufen noch einmal in der Aula ineinander. Oder dass es
noch einmal Erstsemesterparty ist …« Sie brach ab und biss
sich auf die Lippen.
Kai wollte nicht, dass sie weitersprach. »Man kann die
Zeit nicht zurückdrehen, Selina. Man kann nur das nächste
Mal klüger sein«, sagte er freundlich. Er dachte an Halva, die
gezuckerte Veilchen schnitt und die sagte: »Ich habe Angst.«
»Gibt es denn ein nächstes Mal?« Sie sah ihn an und der
aufmerksame Blick ihrer Augen erschreckte ihn. Was erwartete
sie von ihm?
Kai versuchte, unbefangen zu klingen. »Du meinst, ob es
wieder eine Party gibt? Sicher doch, bald.« Er wollte dem
Gespräch ausweichen, so gut es ging, aber Selina erlaubte
es ihm nicht.
»Nein. Ich meine ein nächstes Mal für uns«, beharrte sie.
Kai seufzte. Sie zwang ihn zu einer ehrlichen Antwort, die
sie verletzen musste.
»Ich glaube, nicht, Selina. Sei mir nicht böse«, sagte er
leise.
Sie schwieg und sah auf die Berge, deren Zacken grau und
karg in den Himmel stachen.
Dann schien sie all ihren Mut zusammenzunehmen und
fragte: »Ist es wegen dieses dunkelhaarigen Mädchens, mit
dem ich dich am Eiskanal getroffen habe?«
Kai nickte nur. Er blickte gedankenverloren in die Ferne,
wo sich ein violetter Dunst über dem Tal sammelte. Wie
schön die Welt hier war. Im kommenden Jahr wollte er das
alles Halva zeigen.
Ja, es war wegen dieses
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