Hamburger, Hollywood & Highways
Arbeiterklasseverein mit Pfeife rauchendem Seemann im Logo. Damals hatte James an einem Buch über die Haymarket Riots gearbeitet, die ersten blutigen Arbeiterunruhen Amerikas. Was er mir davon erzählte – von der sozialen Schieflage in Städten wie Chicago mit wenigen Superreichen und unzähligen Armen – und welche Rolle deutsche Anarchisten in dieser Epoche spielten, ließ mich nicht mehr los. Ich beschloss, mit ihm auf Spurensuche zu gehen.
„Am 4. Mai 1886“, erzählte James, „passierte ein Ereignis, welches Amerika in seinen Grundfesten erschütterte. Nicht weit von hier, rund um Desplaines Street Station und dem Haymarket, versammelten sich ein paar Tausend Arbeiter. Sie demonstrierten für bessere Arbeitsbedingungen. Unvermittelt tauchten Polizisten auf, schwer bewaffnet wie Soldaten. Sie forderten die Demonstranten auf, sich unverzüglich zu zerstreuen.“
Ich blinzelte über mein Latteglas hinweg zur glitzernden Skyline von Downtown Chicago. Die Ereignisse, von denen James sprach, gehören zur jüngsten Geschichte der Stadt. Angesichts der schicken Glas- und Betontürme fiel es nicht leicht, mir zerlumpte und ausgebeutete Arbeiter vorzustellen, die für ihre Rechte kämpften. Doch meine East Chicago- Erlebnisse halfen. Wird die Not zu groß, ist Widerstand machbar, Herr Nachbar.
„Plötzlich“, fuhr James fort, „zischte etwas über die Menge. Raste in funkensprühendem Bogen hinein in die Phalanx der Polizisten. Und explodierte mit brutaler Wucht.“
Die Zeitung Chicago Tribune schrieb tags darauf: „Überall lagen Verwundete und Tote, das Blut floss buchstäblich in Strömen.“
Es war eine Bombe gewesen – die Erste in der Geschichte Amerikas.
„War dieser Anschlag das 9/11 des 19. Jahrhunderts?“, fragte ich.
„So kann man das sehen“, erwiderte James.
„Und wer waren die Bösen?“, wollte ich wissen. „Sicher doch keine Araber.“
„Nein“, sagte James mit feinem Lächeln. „Für die Obrigkeit war die Sache klar. Es waren die Deutschen gewesen.“
Eigentlich seltsam, dachte ich, als wir eine halbe Stunde später am Ort des Geschehens ankamen. Nach den Anschlägen vom 9. September wurde auch in deutschen Medien alles durchgekaut, was nur im Ansatz Auflage versprach. Doch die Geschehnisse des 4. Mai 1886 – bei denen Anarchisten aus Deutschland vorne mit dabei waren – wurden nie diskutiert. Ganz anders in Amerika. Historiker erkannten rasch die unheimlichen Parallelen zwischen beiden Ereignissen.
„Wann hats bei dir geschnackelt?“, fragte ich James, während wir uns durch Horden von Menschen drängelten, die in Feierabendlaune Richtung Uferpromenade drängten.
„Sofort“, antwortete er. „Doch erst als mein Verleger Andrew Miller das Thema zur Sprache brachte, dachte ich darüber nach, ein Buch zu schreiben.“
Schließlich war über die Haymarket Riots schon eine Menge publiziert worden. Aber auf einmal gab es einen neuen Gesichtspunkt. Und James begann mit seiner Recherche.
„Damals wurden alle Deutschen in Gemeinschaftshaft genommen“, erzählte er. „So wie zu unserer Zeit Menschen, die arabisch aussehen.“
Welche Auswirkungen das haben kann, dafür hatte ich gestern Abend noch Anschauungsunterricht erhalten. Nach meinem Abenteuer in East Chicago dachte ich, jetzt kommts auch nicht mehr darauf an, und marschierte zur Flatfile Kunstgalerie. Darin lebte seit einem Monat der gebürtige Iraker Wafaa Bilal. Von außen konnte man sehen, wie er schlief, aß, seine Toilette verrichtete – und wie man interaktiv übers Internet mit einer in der Galerie installierten Paintballkanone auf ihn schießen konnte. Und zwar Tag und Nacht, rund um die Uhr. Shoot an Iraqi, nannte Bilal seine Performance. Die Idee dazu war ihm gekommen, nachdem sein Bruder und Vater in Nadjaf durch Schrapnellgeschosse ums Leben gekommen waren. Zu dieser Zeit war er in Amerika gewesen, und fühlte sich schuldig.
„Ich wollte spüren“, sagte er später, „wie es sich anfühlt, wenn man völlig hilflos ist und wildfremde Menschen auf einem schießen.“
Er fand es heraus: Als seine Zeit in der Galerie vorüber war, hatten über 60000 Leute aus 130 Ländern die Gelegenheit zu Shoot an Iraqi wahrgenommen. Ich sah eine Weile zu, während Bilal am Tisch saß und aß. Alle paar Sekunden knallte es, aber er hatte sich so platziert, dass er nicht getroffen wurde. Doch wirkte er völlig abwesend, wie ein Zombie, und als er aufstand und vom Tisch wegging, traf ihn eine Kugel an der Schulter.
Weitere Kostenlose Bücher