Hamburger, Hollywood & Highways
und auf dem Land vermischten sich die Kulturen. In den Großstädten aber drohte die Gefahr, dass aus Vierteln Ghettos wurden. Das passierte in East Chicago . Heute leben dort ein Drittel der Menschen unter der Armutsgrenze, die nach Definition der Weltbank bei „1 Dollar pro Tag“ liegt.
Doch zunächst fiel mir das gar nicht auf. Ich kurvte eine halbe Ewigkeit durch schachbrettartig angelegte Viertel, in denen kleine Häuser standen. Die wurden irgendwann durch Wohnwagen und Trailer abgelöst, dann sah ich nur noch baufällige Hütten. Verglichen mit Armutsvierteln, wie ich sie aus Indien oder Afrika kenne, sah das aber alles harmlos aus. Weil der Gegensatz von arm zu reich in amerikanischen Städten um ein Vielfaches größer ist als zum Beispiel in Kalkutta, schaffen diese Gegensätze trotzdem tödliche Konflikte.
Als ich an einer Kreuzung hielt, beobachtete ich einen Mann, dessen Gesicht durch eine Kapuze verdeckt war, gemächlich über die Straße schlurfen. Kaum erreichte er die Gummiente, sprang er wie von der Tarantel gestochen auf die Kühlerhaube und trommelte mit Fäusten auf die Windschutzscheibe, als gäbe es dafür Muffins satt. So unvermittelt, wie sein Anfall begonnen hatte, war er zu Ende, und Freund Kapuze ging seines Weges. Benommen steuerte ich die nächste Tankstelle an, um nach dem Weg zu fragen. Keine gute Idee. Die Tanke war pure Attrappe. Zwar gab es Benzin, aber vor allem gab es Crack, und zwar gleich im Kassenhäuschen. Während ich zusah, wie in Seelenruhe gedealt wurde, fuhr ein Cabriolet vor, mit ein paar finster aussehenden Burschen drin. Sie hupten. Dealer, Kunden und ich schauten auf, und direkt in die Mündung von weiß der Kuckuck was. Ich kann Revolver und Pistolen ja nicht unterscheiden, aber ich bin schnell auf den Beinen. Mit einem Satz war ich hinter der Theke, während der Dealer sich auf den Boden schmiss und alle anderen reglos verharrten. Crack macht nicht besonders flott im Köpfchen. Die Burschen schossen nur in die Luft, und fuhren dann weiter. Kurz danach herrschte in der Tanke wieder business as usual . Der Tankwart – ich mag ihn gar nicht so nennen, weil das eine Beleidigung für die ehrhafte Zunft der Tankwarte ist – schnauzte mich an, während ich mir die Hosen abklopfte.
„Keine Ahnung, wo fucking downtown ist“, sagte er.
Selten war mir die Gummiente so heimelig vorgekommen. Wie sagte schon Louise im Film „Thelma and Louise“ über ihren heißgeliebten grünen 66er T-Bird Convertible? „Most people just cause me trouble, but that car always gets me out of it.“
Den Satz unterschreibe ich. Ich drehte den Zündschlüssel, ließ die Reifen quietschen, und brachte mich so schnell wie möglich out of trouble .
Das Wunder geschah, und kam mit einem Zeichen: Nr. 90 stand darauf, und darunter „Dan Ryan Expressway“. Der führte dahin, wo ich hin wollte. Nämlich ans Meer. Salzluft schnuppern erschien mir jetzt als die Beste aller Ideen.
Natürlich ist das Unfug. Chicago liegt am Lake Michigan, und der ist so salzig wie der Bodensee. Aber da wir diesen schon hochtrabend Schwäbisches Meer nennen, kann Lake Michigan die Aufwertung erst Recht in Anspruch nehmen. Auf diesem See gibts echte Dünung, hohe Wellen, und vor allem den magischen Punkt draußen auf dem Wasser, von dem aus kein Ufer mehr zu sehen ist. Kein Wunder, nennt man Lake Michigan und seine Kumpels Eriesee, Huronsee, Oberer See und Ontariosee auch Große Seen. Wer dazu kommt, einmal vom Weltraum auf die Erde zu linsen, kann sie von dort aus entdecken. Was beim Bodensee nicht ganz so einfach ist.
Und noch ein bisschen mehr Großartigkeit in Zahlen: Mit 245000 Quadratkilometern bilden diese Seen die größte Binnensüßwasserfläche der Erde. Schönes Wort, Binnensüßwasserfläche. In ihr sind rund 35000 Inseln verstreut, oder, besser gesagt, Binnensüßwasserflächeneilande. Doch was dem Ganzen die Krone aufsetzt, ist die Möglichkeit, mitten in Chicago am Meer-, sorry, Seeufer – zu sitzen, mit einer Latte Macchiato , wie sie in Rom nicht besser zu kriegen ist. Und genau das tat ich. Allerdings nicht alleine, sondern in der angenehmen Gesellschaft von James Green. Er gilt als der beste Kenner der Arbeiterbewegung Amerikas, und was er darüber weiß, lehrte er seinen Studenten an der Universität von Massachusetts in Boston, oder erzählt davon in spannenden Büchern. Wir hatten uns vor einigen Jahren in Genua kennen gelernt, bei einem Fußballspiel von Sampdoria, einem
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