Hana
ein drittes Mal, wobei ich aus Lenas Tonfall schlau zu werden versuche. Ihre Stimme hat nichts von ihrem üblichen Singsang an sich, keine neckende Färbung. Ich weiß nicht, ob sie wütend ist oder beunruhigt oder nur gereizt.
Ich bin schon angezogen und auf dem Weg zum Stop-N-Save , bevor mir überhaupt klar wird, dass ich beschlossen habe, sie zu treffen. Mir ist immer noch, als hätte sich ein Riesenklumpen Eis in mir breitgemacht, mittendrin, wovon ich ganz benommen und unbeholfen werde. Irgendwie ist es mir wundersamerweise gelungen zu schlafen, als ich endlich zu Hause war, aber meine Träume waren voller Schreie und Hunde, denen blutiger Sabber aus dem Maul troff.
Blöd: So habe ich mich benommen. Wie ein Kind, jemand, der einem Märchen nachjagt. Lena hatte die ganze Zeit über Recht. Steves Gesichtsausdruck fällt mir wieder ein – gelangweilt, unbeteiligt, wie er darauf gewartet hat, dass ich mich abrege –, seine samtige Stimme wie eine unerwünschte Berührung: Sei nicht sauer. Du bist so hübsch.
Eine Zeile aus dem Buch Psst kommt mir in den Sinn: Es gibt keine Liebe, nur Chaos.
Ich habe die ganze Zeit die Augen vor der Wahrheit verschlossen. Lena hatte Recht. Lena wird mich verstehen – sie muss mich verstehen, auch wenn sie immer noch wütend auf mich ist.
Ich fahre langsam mit dem Rad am Geschäft von Lenas Onkel vorbei, wo Lena den ganzen Sommer über jobbt. Außer Jed kann ich allerdings niemanden entdecken. Er ist ein Koloss von einem Mann und kaum in der Lage, jemanden in einem ganzen Satz zu fragen, ob er eine Riesenflasche Cola für einen Dollar kaufen will. Lena dachte immer, er wäre durch den Eingriff so geworden. Vielleicht stimmt das. Oder vielleicht ist er einfach so auf die Welt gekommen.
Ich biege um die Ecke zu der schmalen Gasse hinter dem Laden, die mit Müllcontainern vollgestellt ist und einen übelkeiterregenden süßlichen Geruch nach altem vergammeltem Müll verströmt. Eine blaue Tür in der Mitte der Gasse ist der Eingang zum Lager des Stop-N-Save . Ich weiß gar nicht, wie oft ich schon hergekommen bin, um mit Lena im Lager zu sitzen, während sie eigentlich den Warenbestand aufnehmen sollte. Wir knabberten gestohlene Chips und hörten Musik aus dem tragbaren Radio, das ich aus der Küche meiner Eltern stibitzt hatte. Es gibt mir einen Stich in der Brust und ich wünschte, ich könnte in diese Zeit zurückkehren, den ganzen Sommer, die Untergrundpartys und Angelica einfach ungeschehen machen. So viele Jahre habe ich überhaupt nicht an Amor deliria nervosa gedacht oder Das Buch Psst oder meine Eltern in Frage gestellt.
Und ich war glücklich.
Ich lehne mein Fahrrad an einen Müllcontainer und klopfe sacht. Fast augenblicklich wird die Tür aufgezogen.
Lena erstarrt, als sie mich erblickt. Ihr Mund klappt ein Stückchen auf. Ich habe den ganzen Morgen darüber nachgedacht, was ich ihr sagen soll, aber jetzt – angesichts ihres Erschreckens – verdorren die Worte in mir. Sie war doch diejenige, die gesagt hat, ich solle zu ihr in den Laden kommen, und jetzt verhält sie sich, als hätte sie mich noch nie gesehen.
Was herauskommt, ist: »Lässt du mich rein oder nicht?«
Sie fährt zusammen, als hätte ich sie aus einem Tagtraum gerissen. »Oh, entschuldige. Ja, klar, komm rein.« Ich merke, dass sie genauso nervös ist wie ich. Ihre Bewegungen haben eine fahrige, aufgeputschte Energie an sich. Als ich das Lager betrete, knallt sie die Tür geradezu hinter mir ins Schloss.
»Ganz schön heiß hier drin.« Ich versuche Zeit zu schinden, all die Worte zu lösen, die ich sagen wollte. Ich habe mich geirrt. Vergib mir. Du hattest mit allem Recht. Sie sind wie Drähte hinten in meiner Kehle aufgerollt und es gelingt mir nicht, sie zu entwirren. Lena sagt nichts. Ich gehe im Raum auf und ab, will sie nicht ansehen, weil ich Angst habe, denselben Ausdruck an ihr wahrzunehmen, den ich gestern Nacht in Steves Gesicht gesehen habe – Ungeduld oder, schlimmer noch, Desinteresse. »Weißt du noch, wie ich immer hergekommen bin und wir beide hier gesessen haben? Ich hab Zeitschriften und dieses blöde alte Radio mitgebracht, das ich damals hatte. Und du hast immer …«
»Chips und gekühlte Limo geklaut«, beendet sie den Satz. »Ja, das weiß ich noch.«
Zwischen uns dehnt sich ein unangenehmes Schweigen aus. Ich gehe weiterhin in dem kleinen Raum im Kreis und schaue überall hin außer auf sie. All diese zusammengerollten Wörter beugen und straffen ihre
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