Hana
rausschaffen.
Ich kämpfe gegen den Strom aus Körpern an, der vehement auf das Fenster zudrängt, den rettenden Fluchtweg, und renne ins nächste Zimmer. Hier habe ich gerade noch mit Steve gestanden und ihn gefragt, ob er mich mag. Es kommt mir bereits vor wie der Traum aus einem anderen Leben. Hier gibt es keine Fenster, keine Türen oder sonstigen Ausgänge.
Verstecken. Das ist die einzige Möglichkeit. Mich verstecken und hoffen, dass wir zu viele sind, als dass sie jeden Einzelnen finden können. Ich schleiche schnell um den riesigen Berg aus Holzresten, der sich an einer Wand auftürmt, klettere vorsichtig über zerbrochene Stühle und Tische und alte Streifen zerfetzter Polster.
»Hier lang, hier lang!«
Die Stimme des Aufsehers ist so laut, so nah, dass ich sie über dem Chaos der anderen Geräusche hören kann. Ich stolpere, stoße mit dem Schienbein gegen eine Abdeckplatte aus verrostetem Metall. Der Schmerz ist durchdringend und treibt mir die Tränen in die Augen. Ich ducke mich in die Lücke zwischen der Wand und dem Abfallhaufen und schiebe langsam die Metallplatte zurecht, so dass sie mich vor Blicken abschirmt.
Dann kann ich nichts weiter tun als warten, lauschen und beten.
Jede Minute ist eine Stunde. Quälend. Mehr als alles andere wünsche ich mir, ich könnte mir die Ohren zuhalten und summen, um die entsetzliche Geräuschkulisse auszusperren: die Schreie, das Hämmern der Schlagstöcke, knurrende und bellende Hunde. Und bettelnde Leute, die die Aufseher anflehen, wenn sie in Handschellen weggezerrt werden: Bitte, Sie verstehen nicht, bitte, lassen Sie mich gehen, es war ein Fehler, ich wollte nicht … Immer und immer wieder, ein albtraumhaftes Lied in einer Endlosschleife.
Plötzlich muss ich an Lena denken, die irgendwo sicher in ihrem Bett liegt. Meine Kehle schnürt sich zu und ich weiß, gleich fange ich an zu weinen. Ich war so blöd. Sie hatte mit allem Recht. Das hier ist kein Spiel. Es war es auch nicht wert: die heißen, verschwitzten Nächte, Steves Küsse, das Tanzen – all das ist nichts. Bedeutungslos.
Das Einzige, was Bedeutung hat, sind die Hunde, die Polizei und die Gewehre. Das ist die Wahrheit. Wie ich hier kauere, mich verstecke, wie mir Nacken, Rücken und Schultern schmerzen. Das ist die Wirklichkeit.
Ich presse die Augen zusammen. Es tut mir leid, Lena. Du hattest Recht. Ich stelle mir vor, wie sie sich unruhig im Schlaf umdreht, eine Ferse unter der Decke vorstreckt. Der Gedanke tröstet mich ein wenig. Wenigstens ist sie in Sicherheit, weit weg von hier.
Stunden: Die Zeit ist elastisch, klafft wie ein Krater, quetscht mich durch einen langen, engen, dunklen Schacht. Obwohl es hier im Keller bestimmt dreißig Grad warm ist, kann ich nicht aufhören zu zittern. Als die Geräusche der Razzia schließlich zu verebben beginnen, habe ich Angst, dass mich mein Zähneklappern verraten wird. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist oder wie lange ich hier an der Wand gekauert habe. Ich spüre den Schmerz in meinen Knien und meinem Rücken nicht mehr; mein ganzer Körper fühlt sich schwerelos an, außer Kontrolle.
Endlich ist es still. Ich schleiche mich vorsichtig aus meinem Versteck, wage kaum zu atmen. Aber nichts rührt sich. Die Aufseher sind weg und haben offenbar alle Anwesenden geschnappt oder verjagt. Die Dunkelheit ist undurchdringlich: eine erstickende Decke. Ich wage es immer noch nicht, die Treppe raufzugehen, aber jetzt, wo ich frei bin und mich bewege, verspüre ich nur noch den Drang, hier rauszukommen, diesem Haus zu entfliehen. Ein Schrei drängt sich in meine Kehle und es bereitet mir Schmerzen, ihn zu unterdrücken.
Ich taste mich bis zu dem Zimmer mit dem Sofa vor. Das Fenster hoch oben in der Wand ist gerade so zu sehen; darunter glitzert im Mondlicht der Tau auf dem Gras. Meine Arme zittern. Es gelingt mir kaum, mich hochzuziehen, aber dann rutsche ich mit dem Gesicht durch die Erde, atme den Geruch nach Pflanzen ein und kämpfe immer noch gegen das Verlangen an, zu schreien oder zu schluchzen.
Und dann bin ich endlich draußen. Helle Sterne funkeln am weiten Himmel. Der Vollmond steht hoch und überzieht die Bäume mit silbernem Licht.
Im Gras liegen Leichen.
Ich renne los.
fünf
A
ls ich am Morgen nach der Razzia aufwache, stelle ich fest, dass Lena angerufen und mir eine Nachricht auf dem Handy hinterlassen hat:: Hana, ruf mich unbedingt an. Ich arbeite heute. Du kannst mich im Laden erreichen.
Ich höre sie zweimal ab und dann noch
Weitere Kostenlose Bücher