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Hana

Hana

Titel: Hana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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wieder«, sagt Alex verächtlich, als bräuchte ich mir keine Sorgen zu machen – als ginge es mich nichts an. Ich habe den plötzlichen Drang, ihn gegen den Hinterkopf zu treten. Er kniet vor Lena und streicht antibakterielle Salbe auf ihr Bein. Ich bin fasziniert davon, wie seine Finger selbstbewusst über ihre Haut streifen, als sei ihr Körper dazu da, von ihm behandelt, berührt und betreut zu werden. Mir gehörte sie vorher. Die Worte sind unerwartet da, steigen aus meiner Kehle zu meiner Zunge auf. Ich schlucke sie hinunter.
    »Vielleicht solltest du lieber ins Krankenhaus gehen.« Das ist an Lena gerichtet, aber Alex mischt sich ein.
    »Und was soll sie denen erzählen? Dass sie bei einer Razzia auf einer illegalen Party verletzt wurde?«
    Ich weiß, dass er Recht hat, aber trotzdem brandet Groll in mir auf. Es gefällt mir nicht, wie er sich verhält – als wäre er der Einzige, der weiß, was gut für Lena ist. Es gefällt mir nicht, wie sie ihn ansieht, als wäre sie einverstanden.
    »So doll tut es gar nicht weh.« Lenas Stimme ist liebenswürdig, besänftigend, die Stimme eines Erwachsenen, der ein störrisches Kind beruhigt. Ich habe schon wieder das Gefühl, als sähe ich sie zum ersten Mal: Sie ist wie eine Gestalt hinter einem Stück Stoff, nur eine verschwommene Silhouette. Ich kann es kaum ertragen, sie anzusehen – Lena, eine Fremde –, daher gehe ich auf die Knie und schubse Alex geradezu mit dem Ellbogen beiseite.
    »Du machst das falsch«, sage ich. »Lass mich mal.«
    »Zu Befehl, Madam.« Ohne zu protestieren, rutscht er zur Seite, aber er bleibt in der Hocke und sieht mir zu. Ich hoffe, er bemerkt nicht, dass mir die Hände zittern.
    Wie aus dem Nichts beginnt Lena zu lachen. Ich bin so überrascht, dass ich beinahe den Verband loslasse, den ich gerade verknote. Als ich zu Lena aufblicke, lacht sie so heftig, dass sie sich vorbeugen und sich den Mund mit der Hand zuhalten muss, um das Geräusch zu dämpfen. Alex betrachtet sie lautlos einen Moment – er ist wahrscheinlich genauso erschrocken wie ich – und dann schnaubt auch er los. Kurz darauf lachen sich beide kaputt.
    Da fange ich auch an zu lachen. Mir geht plötzlich die Absurdität der Situation auf: Ich bin hergekommen, um mich zu entschuldigen, um Lena zu sagen, sie habe Recht damit, vorsichtig und zurückhaltend zu sein, und stattdessen überrasche ich sie mit einem Jungen. Nein, sogar noch schlimmer – einem Invaliden. Nach all dieser Zeit und trotz all ihrer Warnungen ist Lena diejenige, die sich mit der Deliria angesteckt hat, Lena ist diejenige mit den größten Geheimnissen – die schüchterne Lena, die nie gerne vor der Klasse gesprochen hat, hat sich davongestohlen und hat alle Regeln gebrochen, die uns beigebracht wurden. Das Gelächter kommt krampfartig aus mir heraus. Ich lache, bis mir der Bauch wehtut und mir Tränen über die Wangen laufen. Ich lache, bis ich nicht mehr weiß, ob ich lache oder ob ich wieder angefangen habe zu weinen.
    Was werde ich von diesem Sommer in Erinnerung behalten, wenn er vorbei ist?
    Das Doppelgefühl aus Vergnügen und Schmerz: drückende Hitze, die eisige Schärfe des Ozeans, so kalt, dass sie sich zwischen den Rippen einnistet und mir den Atem raubt; so schnell Eis zu essen, dass ich Kopfschmerzen von den Zähnen bis zu den Augäpfeln bekomme; endlose, langweilige Abende bei den Hargroves, an denen ich mich mit besserem Essen vollstopfe, als ich es je in meinem Leben probiert habe; mit Lena und Alex in der Brooks Street 37 in den Highlands zu sitzen und einen schönen Sonnenuntergang zu beobachten, der am Himmel ausblutet, und zu wissen, dass wir unserem Eingriff wieder einen Tag näher sind.
    Lena und Alex.
    Ich habe Lena wieder, aber sie ist anders und es scheint, dass sie sich jeden Tag ein wenig mehr verändert, noch distanzierter wird, als würde ich zusehen, wie sie sich durch einen langen, schmalen Flur entfernt. Selbst wenn wir allein sind – was jetzt selten vorkommt, Alex ist fast immer dabei –, hat sie etwas Unbestimmtes an sich, als schwebte sie in einem Tagtraum durchs Leben. Und wenn wir mit Alex zusammen sind, könnte ich genauso gut nicht dabei sein. Sie unterhalten sich in einer Sprache aus Geflüster, Gekicher und Geheimnissen; ihre Worte richten sich wie eine Dornenhecke aus dem Märchen zwischen uns auf.
    Ich freue mich für sie. Wirklich.
    Und manchmal, kurz vor dem Einschlafen, wenn ich am verletzlichsten bin, bin ich eifersüchtig.
    Was werde ich

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