Handbuch für anständige Mädchen
handelte.
»Ja!«, schrie er. »Ihr macht mir Schande. Du und deine Schwester. Ihr macht mir Schande, und ihr macht diesem Haus Schande. Ihr macht eurer Mutter Schande, Gott hab sie selig, und ich danke ihm, dass sie nicht hier ist und die Schande ihrer Tochter mit ansehen muss.« Mit einer schwungvollen Gebärde hielt er Alice den Gegenstand hin, den er bei sich trug. Sie starrte das neu erworbene Fernglas ihres Vaters aus Messing und Elfenbein an. Ihr Mund fühlte sich staubtrocken an.
»Dirne!«, rief er.
Sie zuckte zusammen, als habe er sie geschlagen, auch wenn sie in der Tat nur auf die Speicheltröpfchen reagierte, die auf ihren Wangen und ihrer Nase landeten.
»Was meinst du nur, Vater?«, sagte sie und widerstand dem Drang, sich mit der Hand über das Gesicht zu wischen.
»Du bist auf seinem Zimmer gewesen. Mr Blakes Zimmer. Leugne es nicht. Ich habe dich mit meinen eigenen Augen gesehen.«
Alice warf einen beiläufigen Blick auf das Fernglas. »Du irrst dich, glaub mir.«
»Mich irren? Wohl kaum! Das Fenster meines Arbeitszimmers befindet sich direkt gegenüber von Mr Blakes Zimmer. Ich habe gesehen, wie du sein Schlafgemach betreten hast. Ich habe dich … ich habe dich … unbekleidet gesehen. Ja, es ist nur dem Umstand zu verdanken, dass Mr Blake ein Ehrenmann ist, ein Mann, der deine überaus sündhaften Annäherungsversuche von sich gewiesen hat, dass du nicht genauso entehrt bist wie deine Schwester!«
Mittlerweile brüllte ihr Vater, sein purpurfarbenes Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, sodass sie den sauren Gestank von Brandy und Zigarren in seinem Atem roch. Zu beiden Seiten vernahm Alice das willkommene Geräusch sich öffnender Türen, auch wenn sie den Blick nicht vom Gesicht ihres Vaters wandte, um nachzusehen, welche ihrer Tanten herausgekommen waren.
»Alice?«, erklang Tante Lamberts gebieterische Stimme. »Was ist los? Edwin! Was führt dich zu dieser späten Stunde hierher?«
»Ich habe gesehen, wie Alice, meine eigene Tochter, allein das Zimmer eines Gentlemans betreten hat«, erklärte Mr Talbot mit einer schwungvollen Geste seiner fernglasbestückten Hand. »Dann hat sie sich nackt vor ihn hingestellt. Hat sich ihm dargeboten. Wie eine Prostituierte.«
»Du musst dich irren«, sagte Tante Lambert.
»Ich irre mich keineswegs!«, schrie Mr Talbot.
»Wie kannst du dir da sicher sein?«, fragte Tante Rushton-Bell.
»Glaubst du wirklich, Alice würde so etwas tun?«, sagte Tante Statham.
»Hast du sie tatsächlich gesehen?«, wollte Tante Pendleton wissen. »Mit eigenen Augen?«
»Welch schrecklicher Vorwurf«, murmelte Mrs Talbot die Ältere. »Edwin, das kann gewiss nicht stimmen.«
Mr Talbot machte den Mund auf. Er schloss ihn wieder. Seine Augen quollen hervor, als erdrosselte ihn seine ohn mächtige Wut wie ein zu eng um den Hals gewickelter Schal. Ein Kreis ungläubiger alter Gesichter drängte sich um ihn, die Mienen vorwurfsvoll im Kerzenschein. Mr Talbot wich einen Schritt zurück.
»Und?«, sagte Tante Lambert.
»Und was?«, brüllte Mr Talbot.
Von seinen betagten Tanten umzingelt, schien Mr Talbot jäh einzusehen, dass diese Konfrontation mitten in der Nacht ein Fehler war. Sein Blick huschte von einem missbilligenden Gesicht zum nächsten, und er sah sehnsüchtig über ihre Schultern in die Dunkelheit, als hoffe er auf das Erscheinen eines unbemerkten Befürworters oder wenigstens auf die Gelegenheit, ihre Reihen zu durchbrechen und in seine eigenen beruhigend nach Tabak duftenden Gemächer zurückzukehren – sollte er sich entsinnen, in welcher Richtung sich die Treppe befand.
»Hast du sie tatsächlich gesehen?«
Mr Talbot hielt Tante Lambert das Fernglas vor die Nase. »Wofür hältst du das hier?«, rief er, als sei der Besitz eines solchen Instruments völlig ausschlaggebend.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Tante Lambert.
»Ein Fernglas.«
»Und das tut was genau?«
»Es gestattet mir, durch Mr Blakes Fenster zu sehen.«
»Aber seine Vorhänge wären doch gewiss zugezogen, besonders in so einer kalten Nacht«, sagte Tante Pendleton sanft.
»Seine Vorhänge waren offen.«
»Und ist dein Ausblick auf diesen ›Vorfall‹ völlig ungehindert gewesen?«, fragte Tante Lambert.
»Es gab keinerlei Hindernisse. Ich habe gesehen, wie Alice in Mr Blakes Zimmer stand. Sie ist unbekleidet gewesen. Völlig.«
»Und sie hat – was getan?«
»Nichts.«
»Sie ist bloß dagestanden?«
»Wie eine Statue.«
»Hat sie sich kein bisschen
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