Handbuch für anständige Mädchen
Operationstisch in die richtige Lage gebracht hatten. Sie spränge lieber auf der Stelle vom Dach des Hauses ihres Vaters, als zuzulassen, dass Dr. Cattermole ihre nackte Haut berührte. Und dennoch hatte sein Einfluss auf ihren Vater zugenommen, seitdem er geholfen hatte, Lilians Schande zu verheimlichen. Alice zog Tante Lamberts Brandyflasche hervor und stellte sie auf den steinernen Sitz. »Das hier wird mich warm halten. Ich habe ein paar Bücher dabei. Eine Laterne. Ich habe meine Schreibmappe. Was brauche ich mehr?«
»Im Grunde wäre es gut, wenn Sie sich im Haus versteckten. Es könnte Ihnen leichter fallen, Dr. Cattermole aus dem Weg zu gehen, wenn Sie wissen, wo er sich befindet und was er im Schilde führt. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit, wenn er Sie hier oben findet. Sie könnten sich im Ballsaal verstecken. Es würde ihm im Traum nicht einfallen, dort nach Ihnen zu suchen.«
Alice schüttelte den Kopf. Im Augenblick hatte sie das Gefühl, es noch nicht einmal ertragen zu können, Dr. Cattermoles Stimme zu hören. Sie zog sich den Mantel um ihre zitternden Schultern und drehte sich weg.
Bald senkte sich die Sonne hinter die Eichen am Ende des Parks. Lange Schattenfinger stahlen sich über den Boden. Mr Blake blieb an Alices Seite. Sie drängte ihn, ins Haus zurückzukehren, wenn schon nicht, um an dem Treffen teilzunehmen, so doch wenigstens, um Informationen einzuholen. Doch er weigerte sich zu gehen, es sei denn, sie begleitete ihn, um »das Unwetter zu überstehen«, wie er es ausdrückte.
»Da Sie so nautisch gestimmt sind«, erwiderte Alice, »können Sie das Tor hierdurch im Auge behalten.« Sie zog das lange Messingfernglas aus ihrem Mantel hervor.
Mr Blake hielt es sich unsicher an die Augen. Das Gewicht des Dings sowie die steife Brise, die über das Dach wehte, ließen seine Hände zittern, das, sowie die Tatsache, dass sich das Fernglas warm anfühlte, weil es bis gerade eben noch an Alices Körper gepresst gewesen war. Er warf ihr einen Seitenblick zu. Hätte sie etwas dagegen, fragte er sich, wenn er ihr einen Arm um die Schultern legte? Vielleicht ließe sich ein Kuss erhaschen, eine Belohnung für seine untypische Entfaltung männlicher Beherrschtheit, als sie sich ihm – nackt – in seinem Zimmer präsentiert hatte … Er rutschte näher, doch ihr offensichtlicher Gleichmut angesichts seiner Nähe sowie der kalte Stein unter seinem ohnehin schon eisigen Gesäß trübten seine unsichere Leidenschaft.
»Da ist jemand«, sagte Mr Blake. Am anderen Ende des Parks war eine Kutsche aufgetaucht. Sie hatte in offensichtlicher Verwirrung vor dem versiegelten Tor angehalten.
»Vielleicht denken sie, das Ganze sei ein Irrtum, und fahren wieder davon«, sagte Alice hoffnungsvoll. Doch nein. Ein oder zwei Augenblicke später stieß eine weitere Kutsche zu der ersten, und nach einer kurzen Lagebesprechung der Passagiere (wie der teleskopisch ausgerüstete Mr Blake berichtete), fuhren sie los, eine nach der anderen, und schließlich war zu hören, wie sie in den Hof der Stallungen an der Rückseite des Hauses einfuhren. Mr Talbots grüßende Stimme dröhnte von unten herauf und hallte von Mauern und Schornsteinkappen wider, bevor der aufsteigende Wind sie davontrug. Nach ein paar Minuten war Sluce zu sehen, wie er auf das Tor zuschlurfte, eine Laterne in der Hand gegen die aufkommende Dämmerung, losgeschickt, um als menschlicher Wegweiser zu dienen und Gäste bei der Umschiffung des Anwesens zu unterweisen.
Mr Blake schob das Fernglas zusammen.
»Sie können nicht die ganze Nacht hier oben bleiben«, beharrte er.
»Ich kann. Ich werde Lilian schreiben, um mir die Zeit zu vertreiben. Diese Beschäftigung spendet mir viel Trost, selbst wenn ich weiß, dass sie meinen Brief nie lesen wird. Ja« – Alices Gesicht hellte sich auf –, »ich hatte gehofft, dass Sie etwas für mich hinausschmuggeln könnten. Ich hätte Sie schon früher darum gebeten, doch ich war mir nicht sicher …«
»Sie haben mir misstraut?«
»Ja.«
»Aber jetzt?« Mr Blake griff nach ihrer Hand.
»Sie werden also als mein Kurier dienen?«
»O nein«, sagte Mr Blake, »Jetzt ist es völlig unmöglich. Allem Anschein nach besitze ich seit Ihrem Besuch in meinem Gemach … nicht mehr Bewegungsfreiheit als Sie selbst. Ihr Vater hat mir versichert, meine Taschen würden nach Korrespondenz von Ihnen durchsucht werden, sollte ich versuchen, das Haus zu verlassen.«
»Würden Sie sich denn einer derartigen Demütigung
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