Handbuch für anständige Mädchen
vielleicht keine Überraschung, dass manche von ihnen in besserem Gesundheitszustand waren, als sie vorgaben.
Mr Hunter zerrte an Lilians Beinen und versuchte, sie von dem Pony herunterzureißen und sich gleichzeitig hochzuziehen. Das Pony wieherte auf und verdrehte die Augen. Lilian stieß ein Keuchen aus. Sie rutschte nach unten. Wenn sie doch nur ihr Gewehr zu fassen bekäme … Da! Lilian rammte dem Fakir den Kolben von Tante Lamberts Gewehr ins Gesicht. Er rutschte zu Boden, die Hände an der Nase. Lilian wartete nicht ab, ob er sich wieder aufrichtete, sondern grub dem Pony ihre Absätze in die Flanken und ritt weiter in Richtung der Kolonie.
Noch bevor Lilian die letzte Ecke zu den Bungalows der Europäer umrundet hatte, sah sie die Flammen am Himmel, der sich zusehends verfinsterte. An Mr Vines Haus kam sie zuerst vorbei. Seine Besitztümer – jene Kostbarkeiten, die er aus England mitgebracht hatte – lagen verstreut wie das gestrandete Kapergut eines Schiffswracks. Eine Wanduhr ragte aus einem Blumenbeet hervor, ein Porträt der jungen Königin verkehrt herum inmitten der Blumenrohrgewächse. Die dicken weinroten Vorhänge, die der Friedensrichter direkt aus London bestellt hatte und die einst stolz in seinem Esszimmer gehangen hatten, lagen dahingeworfen in der Mitte seines Gartens. Der Boden um diese Überbleibsel schien mit Tausenden vielfarbiger Scherben bedeckt zu sein, die im Licht des Flammenmeeres, zu dem Mr Vines Bungalow geworden war, wie Juwelen glänzten und flackerten.
Lilian stieg von ihrem Pferd ab. Sie hob eine Handvoll dessen auf, was Keramikscherben zu sein schienen. Es war Steingut mit einer dicken Schicht Glasur in leuchtenden Türkis-, Rot- und Gelbtönen, satten Grüntönen und grellem Kobaltblau. Hier und da erkannte Lilian das geisterhafte Fragment eines Tieres, einer Pflanze oder eines Insekts: ein Splitter smaragdgrünen Seetangs, eine vollständige, glasierte Hummel. Lilian begriff, dass es sich um die zersprungenen Überreste von Mr Vines Herbert-Minton-Keramiksammlung handelte. Sie war in winzige Stücke zerschlagen und wie Vogelfutter im Dreck verteilt worden.
Lilian kletterte wieder auf ihr Pony. Das Dach von Mr Vines Bungalow fiel bereits in sich zusammen und sandte eine Explosion orangefarbener Funken in die verkohlte und flirrende Dunkelheit. Von Mr Vine war keine Spur zu sehen, auch wenn Lilian nicht wusste, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Sie rieb sich den Rauch aus den Augen und ritt weiter.
Verstohlen passierte sie die Bungalows der Europäer. Jeder wirkte verlassen – Fenster standen offen, und die Zimmerlampen brannten unnütz. Türen waren ganz herausgerissen und zur Seite geschleudert worden, und das Innere lag in unheilvoll flackernder Schummrigkeit, während in den Häusern Feuer tanzten und schwelten. Mr Ravelstons Haus stand, wie das des Friedensrichters, vollständig in Flammen. Das Hospital auf der anderen Seite des Maidans brannte ebenfalls. Lilian hatte erwartet, eine gewisse Betriebsamkeit vorzufinden, wenigstens ein paar Anzeichen, dass die Europäer sich verteidigten: die Errichtung behelfsmäßiger Barrikaden vielleicht (zweifellos hätten sich hierbei all die schwerfälligen Anrichten als nützlich erwiesen), Musketenfeuer, gar das gelegentliche Donnern einer Kanone. Stattdessen war da nichts. Niemand schien auch nur den geringsten Versuch unternommen zu haben, etwas zu verteidigen – bis es natürlich zu spät war. Doch hier war ein Haus, in dem Licht brannte und dessen Tür geschlossen war. Vielleicht hatten hier alle Zuflucht gesucht? Lilian hielt vor Mrs Birchwoodes Bungalow an und stieg von ihrem Reittier ab. Es war unmöglich zu sagen, ob sich die Europäer von Kushpur in dem Haus befanden oder nicht. Ängstlich spähte sie nach Anzeichen von Bewegung in den funkengefüllten Abend. Da sie nichts und niemanden sah, erklomm sie die Veranda und öffnete die Tür.
Es war still im Haus, doch auf dem Weg über die Schwelle griff Lilian dennoch nach ihrer Pistole. Sie bog um die Ecke zum Salon, und ihr zitternder Finger legte sich fester um den Abzug. Auf einmal erhaschte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Sie wirbelte mit einem Aufschrei herum und erblickte einen Mann, der wie zum Sprung zusammengekauert dahockte. Lilian hatte nur Zeit, seine starrenden Augen zu bemerken, sein schmutziges Gesicht unter einem verdreckten Turban und das Gewehr, das er auf sie gerichtet hielt … Sie schoss ihm schreiend mit Mr Gilmours
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