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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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Pistole ins Gesicht, wobei Mrs Birchwoodes Dielenspiegel in tausend Silberspieße zerbarst. Die Splitter stürzten kaskadenartig mit dem Geräusch eines umstürzenden Messerkastens zu Boden.
    Lilians Hände zitterten unkontrolliert. Sie trat vor und steckte den Kopf in Mrs Birchwoodes Salon.
    Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie in die Diele zurücktaumeln, als habe man ihr ins Gesicht geschlagen. Sie kniff fest die Augen zusammen, doch das Bild schien sich ihr in die Netzhaut eingebrannt zu haben wie in eine der fotografischen Platten ihrer Schwester. Der kurze Blick hatte ausgereicht, um Lilian zu zeigen, dass alle Anwesenden tot waren. Das wusste sie, weil jede einzelne Person dort – Mrs Birchwoode, Mrs Toomey, Miss Forbes und Miss Bell – im Zimmer verteilt in ihrer gewöhnlichen Haltung dasaß. Ihre Teetassen standen vor ihnen auf dem Tablett, und ihre Köpfe waren von ihren Schultern abgetrennt und in ihren Schoß gelegt worden.
    Lilian stolperte den Flur zurück. War denn niemand verschont worden? Was war mit Mr Birchwoode, Mr Ravelston und Mr Toomey geschehen? Wo waren Captain Wheeler, Forbes und Lewis? Gewiss waren sie doch wohl an Ort und Stelle gewesen, um zu helfen? Allerdings waren immer noch Musketenschüsse zu hören, die quer durch die Ansiedlung widerhallten. Vielleicht kämpften sie in der Eingeborenenstadt zusammen mit den übrigen europäischen Offizieren. Und Mr Vine und Dr. Mossly? Vor Angst fiel ihr das Atmen schwer. Wo steckte Mr Hunter, wenn sie ihn brauchte? Lilian stürzte auf Mrs Birchwoodes Veranda hinaus und rang keuchend nach Luft.
    Und da war wieder der Fakir! Seine zerlumpte Kopfbedeckung und zerrissene Kleidung waren unverkennbar, als er sich abmühte, ihr Pony zu besteigen.
    Lilian legte ihre Pistole an, während er versuchte, den Fuß in einen Steigbügel zu bekommen, obwohl sich das Pony aufbäumte und tänzelte.
    »Weg von meinem Pferd, oder ich bringe Sie um!«, schrie sie. Ohne eine Reaktion abzuwarten, drückte sie ab. Pulvergeruch und ohrenbetäubender Lärm erfüllten die Luft. Als sie die Augen aufschlug, war der Fakir verschwunden.

3
    Mr Hunter kroch auf Mrs Birchwoodes Veranda.
    »Lily«, krächzte er.
    Der Klang seiner Stimme ließ Lilian zusammenzucken. »Mr Hunter ?« Sie betrachtete ihn. »Sind Sie es?« Sie tastete nach Munition und steckte sie mit zitternden Fingern in die leeren Kammern von Mr Gilmours Pistole. »Gott, o Gott, Sie sind es.« In ihr stiegen hysterische Tränen und Wut auf. »Ich hätte Sie umbringen können. Bloß war ich so verängstigt, dass ich den Arm nicht still halten konnte.«
    Die Schatten in ihrer Nähe schienen zu springen und zu flackern. Mr Hunter sagte eindringlich: »Wir müssen weg von hier. Kommen Sie schon. Nehmen Sie meine Hand.«
    Doch Lilians Augen hatten den starren und glasigen Blick eines Menschen angenommen, der Zeuge von so viel Schrecken geworden war, dass er sich nicht länger sicher sein konnte, wie die Realität aussah. Es gab keinerlei Anzeichen, dass sie seine Worte gehört und verstanden hatte, und sie missachtete seine ausgestreckte Hand. »Das habe ich nicht erwartet«, flüsterte sie. »Sie haben gesagt, dass es Unruhen geben würde, aber das habe ich nicht erwartet.«
    Eine Gestalt schälte sich aus den Niembäumen am Rand d es Geländes. Langsam, mit verstohlenen, geduckten Bewegungen, kam sie auf die beiden zu. Mr Hunter flüsterte: »Geben Sie mir Ihre Pistole.«
    »Mrs Fraser«, erklang eine Stimme aus den Schatten. »Mrs Fraser, sind Sie es? Sprechen Sie leise. Sie werden Sie hören. Sie werden zurückkommen.«
    »Mr Vine?« Lilian spähte in die Dunkelheit. Der Schatten nahm die dünne, rundschultrige Gestalt des Friedensrichters an, der mit zitternder Unsicherheit einen Säbel vor sich hielt.
    »Was ist hier passiert?«, wollte Mr Hunter wissen.
    »Sie sehen doch, was passiert ist«, sagte der Friedensrichter heiser. Er musterte Mr Hunter mit unverhohlener Abneigung von Kopf bis Fuß. Dann öffnete er den Mund, als wolle er gleich eine abfällige Bemerkung machen, schien es sich dann jedoch anders zu überlegen. Er zuckte mit den Schultern, und der Säbel sank in seiner Hand nach unten, bis die besiegte Spitze im Staub ruhte. »Die Eingeborenen sind wild geworden«, sagte er schließlich. »Sie haben Captain Wheeler niedergestochen und sich wie Derwische auf ihn gestürzt. Nichts als ein Fleck auf dem Boden zeigt noch an, wo er gefallen ist.« Mr Vine deutete mit zitterndem Finger über den Maidan.

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