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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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flackernde Licht zahlreicher Kochstellen erleuchtete den Straßenrand wie freundliche Signalfeuer. Der Geruch von rauchendem Holz und gebratenem Fleisch rief Lilian ins Gedächtnis, wie hungrig und durstig sie war.
    »Wohin fahren diese Menschen?«, zischte sie. »Können Sie es nicht herausfinden?«
    Mr Hunter nickte. »Shabash!«, rief er und winkte einer Gruppe Männer, die um ein Lagerfeuer am Straßenrand saßen, mit dem Buschmesser des toten sepoys zu. »Wie viele habt ihr heute umgebracht?« Er spie einen Mundvoll Speichel, auf den er eigentlich nicht verzichten konnte, auf den Boden, warf den Kopf zurück und lachte. Die Männer grinsten einander zu. Mr Hunter wischte sich den Mund an seinem Ärmel ab. Lilian betrachtete ihn mit widerwilliger Bewunderung. Er spielte seine Rolle zweifellos gut. Seine Zähne waren vielleicht ein wenig zu weiß, um als die eines kampferfahrenen sepoys durchzugehen, doch in der Dunkelheit fiele das niemandem auf. Außerdem ließe sich dieser kosmetische Mangel kurieren, indem er ein paar Minuten auf einem Stück Betel herumkaute. In der Zwischenzeit waren da sein dunkles Erscheinungsbild und seine Gewandtheit im Sattel, sein fließendes Urdu und Hindi, seine Fähigkeit, sich im Nu von einem englischen Gentleman in einen Raufbold vom Basar zu verwandeln. Ja, trotz ihrer derzeitigen gefährlichen Lage wäre sie vielleicht hingerissen gewesen, hätten die Ereignisse des Tages sie nicht derart schockiert und überwältigt.
    Die Männer blickten zu ihm empor und betrachteten seine befleckte Uniform und sein blutverschmiertes Gesicht. »Ja«, sagte einer. »Heute Abend hatten wir viel zu tun. In ganz Kushpur ist kein weißes Gesicht mehr übrig. Irgendwann habe ich aufgehört, die ferringhee- Kehlen zu zählen, die ich durchgeschnitten habe. Hier gibt es sicher nicht mehr viel zu tun, hussoor. Wir sind auf dem Weg nach Delhi, wo der Sircar in den letzten Zügen liegt, wie es heißt. Ein Anblick, den ich für alle Mädchen des Basars von Delhi nicht missen möchte.«
    »Wacker gesprochen«, erwiderte Mr Hunter. »Mögen wir uns bei einem Haufen ferringhee- Leichen am Kaschmir-Tor wiedersehen!« Er zog an den Zügeln des Pferdes, sodass sich das Tier unter ihm aufbäumte. »Tod dem Sircar !«
    »Shabash!«, rief Lilian, deren Stimme schriller klang, als sie beabsichtigt hatte.
     
    Delhi war also gefallen. Lilian und Mr Hunter verließen die Hauptstraße und hielten nach Nordosten auf die Sicherheit der Berge zu. Sie ritten hintereinander, worüber Lilian froh war. Sie war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, und es waren Gedanken, die sie auf keinen Fall mit Mr Hunter hätte teilen können. Je weiter sie sich von Kushpur entfernten, desto schwieriger wurde es, sich auch nur an die schlimmsten Vorfälle zu erinnern, trotz der Schrecknisse, die sie im Laufe des Tages mit angesehen hatte. Sie konnte sich nicht länger das Gesicht des Offiziers ins Gedächtnis rufen, dessen Kopf sie weggeschossen hatte, sie konnte sich nicht an Mr Vines Miene erinnern, als er seinen letzten Atemzug getan hatte. Selbst die kopflosen Damen, die um ihr Teebrett gesessen hatten – ein Anblick, von dem sie sicher gewesen war, ihn niemals zu vergessen –, ließ sich nicht mehr vor ihr geistiges Auge holen, sodass es beinahe so war, als erinnerte sie sich mithilfe einer Reihe grobkörniger und undeutlicher Fotografien, die ein anderer geschossen hatte.

4
    Sie legten viele Meilen zurück, bevor der Wald so undurchdringlich wurde, dass der Mond nicht mehr zu sehen war, und es zu dunkel wurde, um weiterzureiten.
    »Wir können früh am Morgen aufbrechen und weiterreiten«, sagte Lilian, die abstieg und ihr Pony in den Dschungel führte. »Ich habe genug in meinen Satteltaschen für ein bequemes Lager.« Sie holte eine Zunderbüchse und etwas Anzündmaterial hervor, und binnen Minuten brannte ihr eigenes Lagerfeuer.
    Mr Hunter stieg langsam ab. Er fühlte sich völlig gerädert – bei seinem heldenhaften Versuch, Lilian von ihrem Pferd zu zerren, hatte er sich die Schulter verstaucht und jetzt, nachdem er so lange geritten war, brannte sie, als stieße jemand ein glühend heißes Eisen in seinen Körper. Er sank neben dem Feuer zu Boden. Er war erschöpft und fühlte sich fiebrig, auch wenn er es nur ungern zugab. Er hoffte, dass es sich um nichts Ernstes handelte.
    Lilian kramte in ihrem Gepäck. Sie zog einen Kochtopf und einen Sack Reis hervor.
    »Ich bin schon einmal in diesen Hügeln gewesen«, sagte Mr

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