Handbuch für anständige Mädchen
»Sie haben ihn in den Erdboden gestampft. Über die Offizierskaserne waren sie bereits hergefallen. Laut Captain Lewis ist es ein einziges Schlachthaus gewesen. Der arme Knabe war so schockiert, dass er kaum sprechen konnte. Als sie ihn erwischten, schnitten sie ihm die Zunge heraus und warfen ihn in den Brunnen. Was Captain Forbes anbelangt, tja, ich habe keine Ahnung, was ihm zugestoßen ist. Als ich ihn das letzte Mal sah, galoppierte er gerade auf die Eingeborenenstadt zu. Ihn hat wohl das gleiche Schicksal ereilt.«
»Und welches Schicksal ist das?«, flüsterte Lilian.
»Niedergemetzelt. Sogar die junge Fanny.« Mr Vines Kinn bebte. »Es tut mir schrecklich leid, Mrs Fraser«, sagte er. »Fanny hatte so viel für Sie übrig.«
»In der Tat«, sagte Lilian. »Mir ging es ebenso.« Lilian versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wie Fanny ausgesehen hatte, doch das Mädchen hatte neben der gewaltigen Galeone seiner Mutter so nichtssagend gewirkt, dass es so gut wie unmöglich war, sich überhaupt an sie zu erinnern. Doch welchen Unterschied machte das jetzt noch?
»Mr Rutherford, der gute Mann, immer so ruhig und bescheiden inmitten seiner Freunde, aber ein richtiger Enthusiast auf der Kanzel. Solch ein Missionar! Erstochen, wieder und wieder wie der heilige Sebastian, just von den Männern, die er zu Gott hatte führen wollen. Dr. Mossly bei lebendigem Leib im Hospital verbrannt.« Mr Vine schluchzte. »Die Schreie sind schrecklich gewesen, schrecklich. Und ich habe gesehen, wie dieser Träger von Ihnen mit etwas weggelaufen ist, das wie ein Korb voller Hühner aussah.«
»Wir müssen hier weg«, sagte Mr Hunter in eindringlichem Tonfall.
»Wir müssen Rache üben!«, rief Mr Vine unvermittelt. Seine Stimme erhob sich in den Nachthimmel wie der Ruf eines wütenden Predigers. »Wir müssen dieses gottlose Volk schlagen, damit es sich nie wieder gegen uns erhebt. Wir dürfen keine Gnade walten lassen.« Seine Stimme wurde zu einem Kreischen. »Die Garnisonen aus Delhi, aus Kanpur, aus Lakhnau und Merath kommen uns bestimmt jetzt schon zu Hilfe. Sie marschieren gewiss …« Er stieß ein Keuchen aus und presste seine Hand auf die Brust, als habe er auf einmal Verdauungsstörungen. Seine wütende Miene wich einem Ausdruck der Verwirrtheit. Er betrachtete Lilian mit offenem Mund, die Augen weit aufgerissen. »Warum, in aller Welt, sind Sie so gekleidet?«, sagte er endlich. Er starrte sie mit glasigem Blick an, die Augen unverwandt auf ihren Turban gerichtet. Dann stürzte er auf einmal in den Staub. Hinter ihm setzte ein sepoy den Fuß auf Mr Vines Kreuz und zog die Klinge seines Säbels zwischen den Schulterblättern des Friedensrichters hervor.
Mr Hunter ließ sich auf die Knie fallen und tastete im Schmutz vor dem gefallenen Friedensrichter herum, hektisch nach irgendeiner Waffe suchend – einem Stein, einem Stock, sogar einer Handvoll Staub. Über seinem Kopf sah er die Klinge des sepoys im Licht der brennenden Häuser glitzern. Endlich schloss sich seine Hand um das Heft von Mr Vines zu Boden gefallenem Säbel. Mit einer jähen, schnellen Bewegung stieß Mr Hunter die Klinge so fest er konnte von unten in die Leiste des sich aufbäumenden sepoys.
Schreiend brach der sepoy neben dem Friedensrichter zusammen. Mr Hunter taumelte rückwärts und tänzelte dann vorwärts. Das Hemd um seinen Kopf flatterte in seinem Nacken, während er auf den sich windenden Körper einstach.
»Meinen Sie, seine Kleidung passt mir?«, keuchte er mit einem Blick auf die Uniform seines Angreifers, als er endlich zurücktrat.
Lilian nickte. »Ein Pferd hat er auch«, sagte sie.
Lilian und Mr Hunter ritten aus der Kolonie. In der Nacht waren sie ganz bestimmt nicht die einzigen Reisenden auf der Straße, und der Weg, für den sie sich entschieden hatten – der von der Eingeborenenstadt wegführte –, war so belebt wie eine Basarstraße. Alle möglichen Leute verließen Kushpur – Gruppen von Männern, die Stöcke und Knüppel schwangen, Banden betrunkener sepoys, die ihre Rangabzeichen abgerissen hatten und deren Gesichter siegessicher glänzten, ganze Familien, die ihr Hab und Gut auf dem Rücken trugen oder auf Wagen geladen hatten, folgten langsam und entschlossen der Straße. Lilian erblickte kein einziges weißes Gesicht unter all den Leuten, an denen sie vorbeikamen. Die Luft war erfüllt von Gesang und Geschrei, von Rufen und siegreichen Musketensalven. Hier und dort waren Lager errichtet worden, und das
Weitere Kostenlose Bücher