Handbuch für anständige Mädchen
sonst bringen uns die Rebellen vielleicht noch beide um.«
»Oh, natürlich«, sagte Lilian. Ihre Stimme war schrill geworden. »Sie laufen weg, sobald die Lage ungemütlich wird, nicht wahr? Das tun Sie doch, oder? Sie nehmen sich, was Sie wollen, und dann laufen Sie weg.«
Mr Hunter blickte überrascht drein. »Die Welt ist aus den Fugen geraten«, sagte er. »Wie viel ungemütlicher könnte es noch werden?«
»Sie denken immer an erster Stelle an sich und ergreifen die Flucht, sobald es brenzlig wird. Sie scheren sich nicht um die Konsequenzen Ihres Handelns. Sie interessieren sich nicht dafür, welche Schwierigkeiten Sie vielleicht hinterlassen. Was für eine Sorte Mann sind Sie eigentlich, Mr Hunter?«
Er legte sich eine Hand an den klopfenden Schädel. Er wusste nicht, wovon sie sprach. »Jetzt ist es ruhig, das liegt jedoch nur daran, dass wir von Kushpur weg sind. Aber wir befinden uns nicht so weit weg. Kommen Sie schon, Lily, Sie wissen doch, was hier läuft.«
»Ich dachte, Sie seien mit den Eingeborenen befreundet? Was können Sie schon von ihnen zu fürchten haben?« Sie stopfte den Reissack in ihre Satteltasche. Ihr Gesicht war wutverzerrt.
»Es gibt etliche, mit denen ich nicht befreundet bin, das kann ich Ihnen versichern. Und im Moment würde jeder von ihnen mir nur allzu gern die Kehle durchschneiden.«
»Vielleicht die Väter von Frauen, die Sie entehrt haben?«, murmelte Lilian.
»Wovon in aller Welt sprechen Sie? Diese nautch- Tänzerinnen haben keine Väter. Abgesehen davon«, fügte er schroff hinzu, »sind die Zeiten vorbei. Ich bin schon seit Monaten nicht mehr dort gewesen.«
»Wovon sprechen Sie denn?«, sagte Lilian böse.
»Nichts. Von diesen Mädchen.«
»Welchen ›Mädchen‹? Wie viele von uns sind es denn gewesen?«
»Wie viele wovon?«, sagte Mr Hunter verzweifelt. »Warum reden wir jetzt davon? Es ist doch bestimmt nicht so wichtig?«
»Es ist nicht so wichtig !« Lilians Stimme hallte durch den Wald. »Ich würde meinen, es ist sogar sehr wichtig. Es sei denn, ich bin nicht wichtig. Begreifen Sie denn nicht? Sie haben mich verlassen. Sie sind weggelaufen und haben mich in den Händen dieses … dieses … Mörders zurückgelassen. Und Sie glauben, das sei nicht wichtig !«
»Mörder? Sie können doch unmöglich Selwyn meinen?«
»Sie!«, rief Lilian. »Sie haben mich diesem … sogenannten Arzt überlassen, mit seinen kalten, schrecklichen Händen und seinen Messern und seinen Haken …«
Mr Hunter blinzelte. Wie grell die Sonnenstrahlen wirkten, die durch die Äste der Chir-Kiefer über ihnen strömten. Sie taten seinen Augen weh und ließen sie tränen. Er wusste, dass es ein warmer Tag war, doch er kam sich eiskalt wie eine Leiche vor. Er wünschte, Lilian würde zu reden aufhören und auf ihr Pony steigen. Welchen Sinn hatte es, das Blutbad zu besprechen, das sie mitangesehen hatten? Es war viel besser, die ganze schreckliche Angelegenheit zu vergessen. »Messer und Haken?«, sagte er. »Kommen Sie schon, Lily, Sie müssen versuchen, alles hinter sich zu lassen. Sie sind sehr aufgebracht. Kein Wunder, Sie haben ein paar grässliche Dinge mitangesehen.«
»Aufgebracht!«, rief Lilian. »Grässliche Dinge!« »Wie dem auch sei«, fügte Mr Hunter energisch hinzu. »Dr. Mossly ist tot. Jetzt müssen wir wirklich weiter. Wir können uns später über alles unterhalten. Machen Sie schon, Lily.«
Ursprünglich hatte Lilian nicht vorgehabt, Mr Hunter etwas von ihrem Schicksal zu erzählen, das ihr vonseiten Dr. Cattermoles zugefügt worden war. Als sie von ihrem Bungalow weggeritten war (wie lange das jetzt her zu sein schien), während Mr Hunter und die anderen Europäer sie in ihrem Salon erwarteten, hatte sie gedacht, ihn einfach dazu zu bringen, sich in sie zu verlieben und dann aus seinem Leben zu verschwinden, sei Rache genug. Hatte er es letztlich nicht verdient, das Herz gebrochen zu bekommen? Außerdem ertrug sie es kaum, sich die Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen, die zu ihrer Verbannung aus dem Großen Haus geführt hatten. Sie zur Erklärung wiederholen zu müssen, hätte lediglich dazu geführt, dass sie vor ihm weinen würde, und das wollte sie auf keinen Fall.
Doch seitdem hatte sie einen Mann erschossen und einem anderen beinahe die Hand abgesäbelt. Sie war durch ein wirbelndes Meer des Blutvergießens gezogen, hatte so viel Brutalität gesehen, dass sie sich nicht hatte abwenden können, sondern hingestarrt hatte wie in den Höllenschlund,
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