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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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nur langsam voran. Der Dschungelpfad, dem sie folgten, war im Grunde kaum ein Pfad, und hin und wieder musste Lilian absteigen und tief hängende Äste weghacken. Statt eines Buschmessers benutzte sie Mr Vines Säbel, der, obwohl nicht für gärtnerische Zwecke gemacht, der Aufgabe durchaus gewachsen war. Während sie sich inmitten des Blätterwerks abplagte, fielen ihr wieder die vielen Stunden ein, die sie mit dem Zurückschneiden der größeren Pflanzen oben im Wintergarten ihres Vaters zugebracht hatte. Die drückende Schwüle war beinahe die gleiche. Gelegentlich hatte sie das Gefühl, es fehlte nur das entfernte Pochen der Heißwasserrohre unter deren Eisengittern, das leise Geplapper der Stimmen ihrer Tanten, die tief unten in ihrem überwucherten Salon Whist spielten. Und Alice.
    Wenn sie anhielten – wozu sie sich mit ermüdender Häufigkeit gezwungen sahen, damit Mr Hunter in den Busch wanken konnte, um seine gurgelnden Eingeweide zu entleeren –, zog Lilian Skizzenblock und Bleistift hervor. Mr Hunter sagte endlich einmal den ganzen Tag über nichts, außer dass der Pfad, auf dem sie sich befänden, trotz seines Erscheinungsbilds der richtige sei – solange sie in nordöstlicher Richtung reisten. Ungeachtet der Tageshitze wickelte er sich in eine Decke. Am Abend hing er über dem Hals seines Pferdes, als habe ihn die Schwüle wie Wachs zum Schmelzen gebracht.
     
    Am Morgen des vierten Tages schien es Mr Hunter ein wenig besser zu gehen. Er zitterte nicht mehr und war in der Lage, ohne Hilfe aufzusitzen. Er aß eine Schüssel Reis und ein chapatti. Auf diese Weise gestärkt, beschloss er erneut, um Lilians Hand anzuhalten. Diesmal würde er sichergehen, dass es keine Missverständnisse gab: Sein Verstand wäre nicht fieberumnebelt, seine Lenden frei von irreführendem Verlangen. Er strich sich die Haare glatt, wusch sich das Gesicht und tat sein Bestes, mithilfe von Spucke und einem Fetzen seines zerrissenen Hemdes die Uniform des toten sepoys ein wenig zu säubern.
    Als Lilian Mr Hunter den Rücken zugekehrt hatte, warf er einen verstohlenen Blick auf sein Spiegelbild in der Rückseite eines Löffels. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, wie ausgemergelt und gelblich er unter seinem schwarzen Backenbart und seinem sonnengebräunten badmash- Gesicht war. Außerdem konnte er selbst anhand des verzerrten Spiegelbildes in der Unterseite des Löffels sehen, dass seine Nase immer noch so gequetscht und angeschwollen war wie eine überreife Birne und seine Augen immer noch blutunterlaufen von dem Brandy mit Opium, den er getrunken hatte. Er sah wie ein Säufer aus, der sich die Nacht über in der Gosse geprügelt hatte. Sein Selbstvertrauen trübte sich leicht. Vielleicht sollte er ein paar Tage mit seiner Liebeserklärung warten. Wenigstens bis seine Augen wieder funkelten und er sich ein bisschen besser fühlte – weniger müde und geplagt von den übrigen Schmerzen und Fieberschauern. Schließlich konnte es passieren, wenn sie erst einmal eingewilligt hatte, ihn zu heiraten, dass er aufgefordert würde, gewisse eheliche Pflichten zu erfüllen, und er wollte genug Kraft besitzen, der Bitte nachzukommen.
    Mr Hunter schob den Löffel außer Sicht. »Ich glaube, es ist ein Anflug von Malaria«, erklärte er ihr. »Ich muss mich in Kalkutta angesteckt haben. Die Stadt ist auf einem Sumpf errichtet, müssen Sie wissen. Dort geht das Fieber nur so um. Es muss Ihnen doch wohl aufgefallen sein, wie gelb alle aussehen.« Er hustete und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Seine Gedärme rumorten unheilvoll. »Die Bedingungen in Darjeeling sind natürlich ideal für den Anbau von Chinarindenbäumen. Die Company könnte eine ganze Plantage damit betreiben und genug Chinin haben, um alle vor Malaria zu schützen, einschließlich der Eingeborenen. Aber aus irgendeinem Grund lassen sich die Narren in Kalkutta das Zeug lieber per Schiff aus Peru liefern, was kostspielig ist und nie ausreicht, um der Aufgabe gründlich gerecht zu werden.« Er kletterte auf sein Pferd. Ihm war schwindelig, und auf einmal hatte er Schüttelfrost, und ihm war übel. »Können Sie uns nicht schneller einen Pfad freihacken?«, sagte er. »Ich erhole mich schneller, solange Sie sich um mich kümmern.«
    »Ich verstehe«, sagte Lilian gereizt. »Solange ich mich um Sie kümmere. Sie denken nur an sich. Wie immer.«
    »Aber es geht mir nicht gut.«
    »Ein Anflug von Malaria.«
    »Es könnte mich umbringen. Und wir müssen weiter,

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