Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
Vom Netzwerk:
gewandet, dass sie nicht anders konnte als ihn anzustarren. Sie errötete, da ihr auf einmal ihre verschmutzte Kleidung und ihre zerzausten Haare bewusst wurden. Ihr eigener Turban war so dreckig, dass sie es am Morgen nicht über sich gebracht hatte, ihn anzulegen, und sie hatte stattdessen ihren ramponierten und von der Sonne ausgebleichten Tropenhelm aufgesetzt. Lilian schluckte nervös.
    Der Mann lächelte fröhlich und wartete respektvoll schweigend auf ihre Antwort. Zwei Träger in fleckenlosen weißen dhoti- Hosen standen gesenkten Blickes hinter ihm. Einer hielt einen Seidenbaldachin über seinen Herrn, der andere einen langstieligen Fächer aus Pfauenfedern, mit dem er unaufdringlich hin und her wedelte.
    »Sie schweigen«, fuhr der Mann fort, als eine Antwort ausblieb. »Aber natürlich, wie mein ehemaliger Tutor, Dr. Rogerson aus Oxford, zu sagen pflegte, ›Reden ist Silber, Schweigen ist Gold‹. Vielleicht habe ich Sie überrumpelt?«
    »In der Tat, Sir«, brachte Lilian schließlich hervor.
    »Ganz richtig. Sie haben nicht mit mir gerechnet.«
    »Ich habe mit niemandem gerechnet«, sagte Lilian. »Ich habe Sie nicht kommen gehört.« Sie runzelte die Stirn. »Schleichen Sie sich immer derart an Leute heran?«
    »Darf ich in meinem Königreich nicht gehen, wie es mir gefällt?«
    »Aber natürlich. Ich meinte nur – ich meinte nur, dass Sie mich erschreckt haben.«
    »Dafür muss ich mich entschuldigen. Kommen Sie, Dr. Rogerson nahm es da sehr genau. Wir müssen einander die Hände schütteln und uns vorstellen. Ich heiße Ravindra Yashodhar Bhagirath Rana. Ich bin der Maharadscha von Bhandarahpur. Aber bitte, Sie dürfen mich Ravi nennen. Und Sie sind?«
    »Ich bin Miss Talbot.« Lilian schüttelte die dicke beringte Hand, die ihr entgegengestreckt wurde.
    »Und Ihr Gefährte?« Ravi wies in die Bäume, wo Mr Hunter wohl immer noch schlief, wie Lilian vermutete.
    »Das ist Tom Hunter.«
    »Er trägt den Rock eines sepoys. Der Mann ist Inder?«
    »Nein«, sagte Lilian nach kurzem Zögern. »Er ist ebenfalls Engländer.«
    »Ihr Gatte?«
    Lilian schüttelte den Kopf.
    Verwirrt legte Ravi die Stirn unter seinem Turban in Falten. »Erläutern Sie mir das bitte. Sie reisen allein mit einem Mann, bei dem es sich nicht um Ihren Gatten handelt? Dr. Rogerson hat es in der Hinsicht auch überaus genau genommen. Eine Dame, eine englische Dame, ist nie allein mit einem Mann, der nicht ihr Gatte, ihr Vater oder ihr Bruder ist. Es gilt als höchst unziemlich.«
    Lilian wusste nicht, was sie sagen sollte.
    Auf einmal hellte sich Ravis Gesicht auf. »Ach, ist Mr Tom Hunter vielleicht Ihr Diener?« Der Träger mit dem Pfauenfederfächer fuhr mit einem Fliegenwedel über die Schulter seines Herrn, als wolle er andeuten, dass die Pflichten eines echten Dieners nicht darin bestanden, im Dschungel zu schlafen, während seine Herrin sich selbst überlassen blieb.
    »Nein«, flüsterte Lilian. »Er ist … mein Reisegefährte.«
    »Aber natürlich.« Ravi räusperte sich und senkte diskret den Blick. Dann, nachdem er diese Information einen Moment lang überdacht hatte, zuckte er mit den Schultern. »Dr. Rogerson ist eben ein alter Mann gewesen. Die Zeiten ändern sich, und ›keine Regel ohne Ausnahme‹, nicht wahr? Ausgezeichnet!« Anscheinend zufrieden mit seiner eigenen Argumentation, lächelte er und wiederholte heiter: »Wie ich sehe, geht es ihm nicht gut.«
    »Nein«, stimmte Lilian ihm zu. »Aber es geht ihm vielleicht ein wenig besser, wenn er aufwacht.«
    »Ach ja, ›Schlaf ist die beste Medizin‹, wie es in Ihrem geschätzten englischen Sprichwort heißt.« Ravi klatschte in die Hände. Ein Trupp Träger in glänzend weißen dhoti- Hosen betrat die Lichtung. »Sie werden mit zu mir nach Hause kommen. Als mein Gast«, sagte er zu Lilian. »Es ist nicht weit, und wir haben Elefanten und Pferde, die uns dorthin bringen können. Vielleicht haben wir auch Arzneimittel für Ihren Gefährten. Wollen Sie mir die Ehre erweisen, Miss Talbot, in meinem howdah zu reiten? Meine Träger werden Ihren Mr Hunter tragen. Er wird ganz sicher sein. Ach, aber Sie machen sich Sorgen. Ich bin für Sie ein Fremder. Doch ist es nicht so, wie Ihre englische Weisheit besagt, dass ›Fremde einfach die Freunde sind, die man noch kennenlernen muss‹? Und da wir einander nun kennengelernt haben, ja, da sind wir doch ganz gewiss Freunde.«
    »Das ist überaus großzügig von Ihnen, Sir«, sagte Lilian. »Wir sind auf dem Weg nach

Weitere Kostenlose Bücher