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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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gelähmt vor ungläubigem Entsetzen. Jetzt musste sie feststellen, dass sie von der Erinnerung an das Gemetzel an ihrem eigenen Körper und die Ermordung ihres ungeborenen Kindes mit furchteinflößender Klarheit heimgesucht worden war. Die Pein, die sie tief in ihrem Herzen vergraben geglaubt hatte, war emporgestiegen, sodass die Worte, die sie äußerte, voll Wut aus ihrem Mund zu sprudeln schienen und ihr selbst kaum verständlich waren. Die Empörung, der Zorn und die Demütigung, die sie empfand, weil Mr Hunter sie hatte sitzen lassen und auf alles, was sich daraus ergeben hatte, loderte jetzt so gewaltsam in ihr wie am Tag seiner Abreise.
    Die Gewalt und Schändung, die ihr widerfahren waren, waren ungeahndet, der Tod ihres Kindes war ohne Vergeltung geblieben.
     
    Bis zum Nachmittag ging es Mr Hunter wieder schlechter. Am Abend verabreichte Lilian ihm einen großen Schluck Brandy, bloß um ihn davon abzuhalten, in seinem Delirium zu schreien.
    Am Morgen schlief er immer noch. Er murmelte etwas Undeutliches, lag aber reglos unter seiner Decke. Lilian entfachte ein Feuer, um Wasser zu erhitzen. Sie kochte Tee, entschied aber abzuwarten und erst ein Frühstück zuzubereiten, wenn er sich rührte. In der Zwischenzeit baute sie ihre Staffelei auf und holte ihre Aquarellfarben heraus. Da die Sonne nun aufgegangen war, konnte Lilian durch die Lücken zwischen den Nadelbäumen sehen. Sie befanden sich auf einer Lichtung, die auf ein bewaldetes Tal hinausging, an dessen Sohle sich ein Fluss wand. Sie sah Wolkenfetzen über den Bäumen, an den höchsten Ästen hängen geblieben oder, hier und dort, in einer windstillen Senke gefangen. Abgesehen von den Geräuschen der Vögel und Insekten und dem weit entfernten Rauschen des Flusses, war es still an dem Ort.
    Lilian saß vor einer gelben Blume, die sich um einen abgebrochenen Stamm wand, und begann zu malen. Wie gut das klare Blau und Lila des Morgenhimmels den strahlenden, sonnigen Glanz der Blütenblätter zur Geltung brachte. Das Bild würde gelingen, das sah sie schon. Doch wie in aller Welt sollte sie ihre Aquarelle zurück nach England und fort von den verheerenden Auswirkungen des Schimmels und dem Heißhunger weißer Ameisen schaffen? Sie hatte bereits eine ganze Anzahl Skizzen und ein Gemälde hinter ihrem Sattel zusammengerollt. Und es stellte sich immer noch die ärgerliche Frage, wohin sie sie schicken sollte. Sollte sie sie Kew anbieten? Sollte sie sie dem Botanischen Garten in Kalkutta schicken? Sollte sie sie Alice senden, die sich viele Meilen weit weg in England befand?
    Die arme Alice, dachte Lilian mit einem Seufzen, sie musste sich fragen, was geschehen war. Zweifellos war London telegrafisch von den Schrecknissen der noch nicht lange zurückliegenden Aufstände unterrichtet worden, und jeder zu Hause wusste mittlerweile bestimmt davon. Alice würde sich nach Informationen verzehren. Es sei denn, die Nachrichten hatten die Schwelle ihres Vaters noch nicht überschritten. Es war gut möglich, dass ihr Vater so von seiner Sammlung in Anspruch genommen wurde, dass er keine Ahnung hatte, was sich in der Welt vor seiner eigenen Haustür ereignete. Dies war auf jeden Fall schon vorgekommen, und Lilian entsann sich, dass Mr Talbot mit einem überraschten Grunzen den Kopf von seinem Sturmvorhersager erhoben hatte, als er hörte, dass es Kämpfe auf der Krim gegeben habe …
    Lilian war so in Gedanken versunken, dass sie nichts mitbekam, bis der Mann direkt hinter ihr war. Anschließend fragte sie sich, wie es ihm gelungen war, sich so leise an sie heranzuschleichen – bis ihr klar wurde, dass er in seinen goldenen Pantoffeln einherging, als gleite er über dicke, üppige Teppiche. Es war daher ein überraschtes Keuchen, das ihr beim Klang der Stimme an ihrer Schulter entfuhr.
    »Entzückend!«, rief er. »Diese Farbe ist eine meiner allerliebsten. Sie erinnert mich ganz stark an Oxford und die Butterblumen, die am Fluss auf den Weiden des Magdalen College wuchsen. Bloß strahlt sie mehr. Viel mehr natürlich.«

5
    »Ihr Begleiter scheint unpässlich zu sein«, fügte er hinzu.
    Lilian nickte. Sie starrte in das rundliche Gesicht eines Mannes. Seine braunen Augen befanden sich über Wangen mit einem spärlichen Backenbart, und seine Oberlippe zierte ein glänzender, ebenholzfarbener Schnurrbart. Sein Kopf war in einen Turban von derart leuchtendem Weiß gehüllt, dass Lilians Augen vom Hinsehen wehtaten. Sein dicklicher Körper war in so üppigen Brokat

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