Handbuch für anständige Mädchen
Nordosten gewesen. Bis Mr Hunter erkrankt ist, natürlich. Kennen Sie die Straße? Vielleicht könnten Sie uns helfen.«
»Ganz bestimmt. Wie die Engländer so schön sagen, ›Willst du wissen, wohin der Weg führt, so frage den, der von dort kommt‹. Sie können mich fragen, und es wird mir eine Ehre sein, Ihnen Antworten zu geben.« Ravi verstummte, und ein versonnenes Lächeln umspielte seine Lippen. »Ja, ja, der liebe Dr. Rogerson. Er war ein überaus eifriger Tutor. ›Wenn der Schüler bereit ist, wird der Meister erscheinen.‹ Sie Engländer haben stets das passende Sprichwort zu jeder Gelegenheit. Ganz genau.« Er seufzte. »Das liebe Oxford. Miss Talbot, bitte schließen Sie sich mir an. Wir können gemeinsam in Erinnerungen schwelgen. Es wäre mir ein großes Vergnügen. Und Englisch zu sprechen ist für mich ebenfalls ein höchst erfreulicher Zeitvertreib.« Er betrachtete Lilians halbfertiges Bild beinahe begierig. »Ganz besonders gern würde ich mich mit Ihnen über das Thema Ihres Gemäldes unterhalten. Sie sind Pflanzenliebhaberin? Ich selbst bin in dieser Hinsicht höchst engagiert. Ich besitze einen Gemüsegarten von erlesener Schönheit. Ja, es sind die englischen Gemüsesorten, die mich am meisten interessieren. Dr. Rogerson selbst baute Kürbisse von geradezu furchterregender Größe an. Vielleicht können wir uns auch darüber unterhalten.« Er senkte die Stimme und betrachtete ihr Gewand mit dem Ekel, den er offensichtlich empfand, aber bisher höflich verborgen hatte. »Natürlich könnte es sein, dass Sie, wenn wir unser Ziel erreichen, Ihre Ziegenhirtenkleidung gegen etwas Bequemeres eintauschen möchten. Meine Träger werden Sie mit allem versorgen, was Sie benötigen.«
Obwohl Lilian nun schon einige Zeit in Indien verbracht hatte, war sie noch nie auf einem Elefanten geritten. Vor ihrer Schlafzimmertür im Haus ihres Vaters hatte ein mit bunten Seidenstoffen behängter howdah gestanden – als Kinder hatten sie und Alice darin gespielt und so getan, als führen sie mit einem Stechkahn den Flur entlang auf ihrem Weg in exotische Länder und an ferne Orte. Nun da Lilian sich tatsächlich in einem exotischen Land an einem fernen Ort befand, verspürte sie freudige Erregung, als sie auf den Elefanten kletterte, um sich zwischen den karmesinroten und goldenen Kissen des howdahs niederzulassen. Ravi bestieg ebenfalls das Tier und ließ sich neben ihr nieder.
»Diesen howdah benutze ich für die Jagd«, keuchte er. »Überaus bequem. Sehr groß und geräumig.« Er blinzelte vorwurfsvoll in Richtung ihrer verdreckten Stiefel und reichte ihr ein Paar silberner Pantoffeln. »Bitte, viel bequemer.«
Lilian sah hinab und beobachtete das hektische Treiben weit unter ihnen um die Beine des Elefanten. Sie beobachtete, wie man den immer noch bewusstlosen Mr Hunter in eine Sänfte legte. Ihre Staffelei, ihr kaum begonnenes Gemälde und all ihre Habseligkeiten wurden, wie sie bemerkte, von einer Gruppe Träger fortgeschafft. Ihre Ponys wurden außer Sicht geführt. Dann ertönte auf einmal eine Trompete, jemand stieß einen Schrei aus, die Träger verschwanden (auch wenn Lilian nicht zu sagen wusste, wohin), und ihr Elefant setzte sich in Bewegung.
Es war, als säße man auf einem Haus, das sich bewegte. Lilian hielt sich rasch an der Seite des howdahs fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Wie hoch sie saßen! Sie hatte Ausblick auf die Bäume und sah Vögel und Insekten, die sie zuvor nicht zu Gesicht bekommen hatte. Affen verschwanden mit einem Satz im Blätterwerk, und Schmetterlinge flatterten inmitten der Äste, nichts davon hatte sie sich zu Pferde ansehen können. Von seinem Nest aus einem Meer karmesinroter und goldener Kissen beobachtete Ravi seinen Gast mit Interesse. Ein mattes Lächeln umspielte seinen rosigen Schmollmund.
Endlich ließen sie den Wald hinter sich, und Lilian hatte Ausblick auf das Tal. Der Fluss flimmerte und glitzerte immer noch, allerdings schien er sich jetzt rechts anstatt links von ihnen zu befinden. Zweifellos handelte es sich hier um einen anderen Fluss, dachte Lilian, da sie sich nicht daran erinnern konnte, den anderen überquert zu haben. Sie sah sich um und zog sich den Tropenhelm über die Augen, während sie in die Ferne blinzelte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden, keine Ahnung, in welche Richtung Kushpur liegen mochte, und keine Ahnung, wohin sie unterwegs waren. Sie blickte zurück über das mächtige, brokatbehangene
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