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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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Lilian betrachtete ihn düster, enthielt sich aber eines Kommentars. Dr. Mossly war jedoch daran gewöhnt, dass Frauen nichts sagten, wenn er sich mit ihnen unterhielt. Er beschrieb die geltenden Hygienevorschriften auf der Krankenstation.
    Lilian konnte ein Gähnen nur unterdrücken, indem sie einen Mund voll siedend heißen Tee trank. Mit brennender Kehle warf sie Mr Hunter einen verstohlenen Blick zu. Er unterhielt sich jetzt mit Mr Vine und schien sie nicht zu bemerken. Seufzend blickte sie aus dem Fenster. Dr. Mosslys Worte umkreisten ihren Kopf, bevor sie wie Staub nach draußen in den Sonnenschein flogen und sich in den großen Ebenen verloren, die die Kolonie der Europäer auf Meilen umgaben. Lilian stellte sich vor, wie sie mit ihnen geweht wurde, aus dem Fenster und in den gleißenden Himmel, wie sie sich in der ofenheißen Brise drehte und auf Kushpur hinabblickte … hinab auf den dreibeinigen Pariahund, schuppig und beinahe haarlos, der an einem der Bündel vor dem Hospital schnüffelte … hinab auf den Basar in der Eingeborenenstadt und sein Gewimmel aus Farben, Geräuschen und Gerüchen … hinab auf die Menge, die sich am Totenverbrennungsplatz am Fluss versammelt hatte, wo die Flammen die Knöchel des Verstorbenen umzüngelten, während ein anderer Kadaver, ganz weiß vor ghee, dem Butterschmalz, von einer preiswerteren, aber weniger wirksamen Feuerbestattung, vorübertrieb … Die Gespräche der Engländer, die sich immer und überall um die gleichen Dinge drehten, umwogten sie wie ein Schlaftrunk. In der gesamten Gesellschaft befand sich nur ein Mensch, der das alles, wie sie wusste, genauso absurd fände wie sie. Mittlerweile unterhielt er sich mit ihrem Mann.
    »Meine Gattin malt Pflanzen«, sagte Selwyn gerade. »Auch wenn ich nicht begreife, was sie in dem Dschungel von einem Garten da draußen Malenswertes findet. Früher ist sie immer allein losgezogen auf der Suche nach den scheußlichen Dingern – Blumen und dergleichen, doch dem habe ich bald Einhalt geboten. Wenn sie schon unbedingt hinausgehen muss, hat sie gefälligst einen Träger mitzunehmen.«
    »Oh, aber ja!«, mischte sich Mr Vine ein. Er lächelte Lilian an und schüttelte den Kopf, als verzweifle er am Eigenwillen der Frauen. »Es könnte sonst was passieren. Thugs, aber auch Diebe und Straßenräuber. Aber eigentlich sollte sie ganz zu Hause bleiben. Sie möchten doch gewiss nicht mit ansehen, wie eine kostbare Rose wie Ihre reizende Gattin in dieser Höllenhitze verwelkt und verdorrt.«
    »Wenn Sie eine Blume benötigen, Mrs Fraser, müssen Sie es mir nur sagen, und sie soll Ihnen gehören.« Mr Hunter verbeugte sich und bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln.
    »Wie liebenswürdig«, sagte Lilian. »Aber es fiele mir im Traum nicht ein, Ihnen Umstände zu bereiten.«
    »Ermuntern Sie sie nicht auch noch, Mr Hunter!«, rief Selwyn. »Sie verbringt ohnehin schon genug Zeit damit, in ihren Notizbüchern herumzukritzeln und Skizzen von irgendwelchem Unkraut anzufertigen. Ihr Schlafzimmer ist voller Bilder. Und sie malt Pflanzen, immerzu Pflanzen. Warum um alles auf der Welt sie nicht auch einmal etwas anderes malt, werde ich nie begreifen. Ein Stillleben vielleicht – dann müsste sie einmal drinnen bleiben. Oder einen Sonnenuntergang – das könnte sie von der Veranda aus tun.«
    »Sie müssen auf der Hut sein, Mrs Fraser«, sagte Dr. Mossly. »In der Regenzeit ist die Luft selbst tropfnass. Ihre Gemälde werden schimmeln – sollten sie in der Zwischenzeit nicht von weißen Ameisen aufgefressen worden sein.«
    »Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Ich habe vor, meine fertigen Arbeiten nach England zu schicken, bevor der Monsun einsetzt.«
    »Ach, natürlich«, sagte Mr Hunter. »Ihrem Vater. Oder Ihrer Schwester? Wie geht es den beiden? Gut, wie ich hoffe.«
    Lilian antwortete nicht. Ihre Hand schmerzte heftig von dem Hieb, den sie Mr Hunter tags zuvor versetzt hatte (der Bluterguss war seitlich an seinem Mund zu sehen, wo ihre Faust ihn getroffen hatte), und in ihr regte sich das jähe Verlangen, erneut handgreiflich zu werden. Sie hatte keine Ahnung, ob es Alice gut ging oder nicht. Ja, das letzte Mal, dass sie sie gesehen oder von ihr gehört hatte, hatte Alice geweint. Ihr tränennasses Gesicht war in einem durchtränkten Taschentuch vergraben, und sie hatte zum Abschied die Hand gehoben, während Lilian in eine Kutsche mit Selwyn und Dr. Cattermole verfrachtet wurde. Was würde Alice sagen, wenn sie wüsste,

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