Handbuch für anständige Mädchen
dass Lilian erneut vor Mr Hunter stand? Die Teetasse in ihrer Hand zitterte, obgleich ihre Miene gleichgültig blieb.
Selwyn schwadronierte weiter. »Und wie lange werden Sie sich in Kushpur aufhalten, Mr Hunter?«, fragte er.
»Ein paar Wochen. Vielleicht einen Monat. Doch vielleicht bleibe ich auch länger. Es liegt nicht immer an mir. Die Jahreszeiten diktieren meinen Zeitplan. Die Regenzeit hält mich vielleicht an einem Ort fest, die Schneeschmelze nach dem Winter schickt mich vielleicht woandershin, während der Frühlingstagundnachtgleiche wäre ich am liebsten überall gleichzeitig.«
»Und Sie haben im Landesinnern das eine oder andere Abenteuer erlebt, wie ich annehme?«, sagte Mrs Birchwoode. »Das würde Ihre … Ihre Eingeborenenverkleidung gestern erklären?«
»Wenn unter den Sternen zu schlafen und zu Fuß durch den Himalaja zu reisen, ein Abenteuer ist, dann ja. Wenn vom Schmelzwasser eines Gletschers zu trinken oder die eigenen Stiefel gegen ein paar Stücke getrocknetes Hammelfleisch zu tauschen, ein Abenteuer ist, oder wenn man dafür lebt, auf dem Dach der Welt zu stehen und zu sehen, wie die Sonne rosa- und lilafarben über den Bergen aufgeht, dann nochmals ja. Doch wenn man es empörend findet, mit einem Ochsen im Zelt zu schlafen, damit man nicht friert, oder wenn es einem wie die widerwärtigste Beschäftigung vorkommt, wochenlang ohne eine anständige Tasse Tee oder einen frisch gestärkten Kragen zu reisen, bloß um eine neue Pflanzengattung aufzuspüren, dann nein.« Er lächelte. »Die Entscheidung überlasse ich Ihnen.«
Mrs Birchwoode schenkte ihm ein anerkennendes, affektiertes Lächeln. »Wie schrecklich aufregend«, hauchte sie. »So ein Abenteuer wäre ganz nach meinem Geschmack.«
»Was?«, schnaubte Mr Birchwoode verächtlich. »Ohne Tee auskommen, meine Liebe? Du würdest es nicht zwei Minuten aushalten. Und was das Eintauschen deiner Stiefel angeht – ich gehe davon aus, dass der Sonnenaufgang nur ein ärmlicher Ersatz für den Verlust solch modischer Galanteriewaren wäre.«
Mrs Birchwoode achtete nicht auf ihn. Selwyn lächelte matt. Lilian musste feststellen, dass Mr Birchwoode sie verschmitzt musterte. »Im Gegensatz zu Ihnen, Mrs Fraser, wie? Von Ihnen könnte sich Mrs Birchwoode das eine oder andere abschauen. Das ist es, meine Liebe«, rief er seiner Gattin zu, »warum begleitest du Mrs Fraser nicht, wenn sie das nächste Mal auf Captain Forbes’ Pferd durch die Gegend reitet? Das wäre doch ein Abenteuer für dich. Dann brauchst du nicht neben einem Ochsen zu schlafen und bist rechtzeitig zum Tee wieder zu Hause.«
Alle lächelten höflich, doch auf Mr Birchwoodes Worte folgte ein Schweigen, das niemand brach, bis Mr Hunter sich erkundigte, ob es neues Sattelzeug für sein Pferd gäbe, und Captain Forbes und Captain Wheeler froh zu sein schienen, ihre militärische Meinung zu dem Thema abgeben zu können.
Mr Hunter erhob sich zum Gehen. Er schüttelte Lilians Hand. »Es war mir ein Vergnügen, Mrs Fraser«, sagte er. »Ich bin hocherfreut über diese Gelegenheit, unsere Bekanntschaft zu erneuern.« Und dann war er fort.
»Welch charmanter Knabe«, sagte Mrs Toomey atemlos, eingehakt an Lilians Ellbogen. »Und wie schön für Sie, meine Liebe, einem alten Freund aus der Heimat zu begegnen.«
»Ja«, sagte Lilian. »Mag sein.« Sie ballte die Finger ihrer rechten Hand zur Faust. In der Handfläche spürte sie einen harten Samen, den Mr Hunter dort hineingedrückt hatte. Sie wusste ohne nachzusehen, von welcher Pflanze er stammte.
4
Wenn Mister Hunter beladen mit botanischen Exemplaren aus einem entlegenen Winkel des Landes zurückgekehrt war, wenn er alles akkurat beschriftet und seine Pflanzen in ihre gläsernen Reisekästen gepackt hatte, seine getrockneten Samen, Schoten, Blätter und Blütenköpfe in wasserdichte Schachteln, und alles nach London verschifft hatte, pflegte er sich die Zeit zwischen den Expeditionen auf dem Basar zu vertreiben. Er brachte seine Notizen auf den neuesten Stand und trank eine Tasse starken, bittersüßen Kaffee nach der an deren. Er spielte Backgammon und perfektionierte sein Urdu, Marathi, Paschtunisch oder Bengali. Gelegentlich arbeitete er an seinem Buch über die Flora Nordindiens oder suchte auf dem Basar die käufliche Liebe einer nautch- Tänzerin von zweifelhaftem Ruf.
Gewöhnlich hätte sich Mr Hunter nicht mit der Gesellschaft der Europäer abgegeben – ihr Geplauder langweilte ihn. Doch jetzt, da seine
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