Handbuch für anständige Mädchen
noch schmerzhafte Krämpfe. Noch beunruhigender war, dass seine Zähne fest zusammengebissen blieben, die Sehnen an seinem Hals unter der Haut fest angespannt waren wie Takelage, die Lippen zu einem derart grotesken Grinsen zurückgezogen, dass Lilian es nicht über sich brachte, ihn anzusehen.
Dr. Mossly stellte seine Tasche auf den Waschtisch. Er warf einen Blick auf Selwyn und schüttelte den Kopf. »Wundstarrkrampf«, sagte er grimmig.
Er untersuchte Selwyns Hand, wo der Tiger ihm die Knöchel aufgeschürft hatte.
»Und was können Sie für ihn tun?« Lilian zwang sich, das grinsende Gesicht ihres Gatten anzusehen.
Dr. Mossly zuckte mit den Schultern. »Sedierung. Aderlass, um die Gifte zu entfernen und den Organismus zu entkrampfen.«
»Und diese Behandlungsmethoden sind erfolgreich?«
»Tja, es hängt davon ab, wie weit das Gift durch den Körper gewandert ist. Ich muss sagen, die Konvulsionen und anderen Symptome haben sich nach einer ziemlich langen Zeit gezeigt, was mich dazu veranlasst, das Schlimmste zu befürchten.« Er krempelte die Ärmel hoch. »Ich habe ein Glas mit Blutegeln in meiner Tasche, Mrs Fraser. Wenn Sie mir Tücher zur Verfügung stellen könnten, damit ich anschließend aufwischen kann, wäre ich Ihnen sehr verbunden.«
Die nächsten beiden Wochen verbrachte Dr. Mossly einen Großteil seiner Zeit mit Lilian an Selwyns Bett. Er traf mit seinen Blutegeln ein – glänzende schwarze Schleimstreifen in einem Glas – und nahm sie wieder mit, fett und rund wie Billardkugeln, jeder einzelne Egel angeschwollen mit Selwyns vergiftetem Blut. Alle paar Stunden versuchten Lilian oder Dr. Mossly, Wasser und Laudanum zwischen Selwyns zusammengebissenen Zähnen hindurchzutröpfeln, und rieben seine um sich schlagenden, zuckenden Glieder mit kühlen, feuchten Tüchern ab. Jede Bewegung im Zimmer, jedes Geräusch, das sie verursachten, rief in seinem Körper einen derart heftigen Krampf hervor, dass es den Anschein hatte, als würden seine Sehnen zerreißen. Sein charpoy war ständig schweißdurchtränkt, sodass Lilian das Laken unter ihm wieder und wieder auswechseln musste, obgleich seine Gliedmaßen sich verkrampften, wenn die Träger, die ihn hochhoben, ihn auch nur ganz sacht berührten.
In den Pausen zwischen den Regengüssen besuchten Mrs Birchwoode, Mrs Ravelston und Mrs Toomey Lilian und ermutigten sie mithilfe von Genesungsgeschichten – Soldaten, die die Amputation ganzer Gliedmaßen ertragen hatten, die eine Blutvergiftung und Wundbrand und Wundstarrkrampf auf einmal entwickelt hatten, hatten sich wieder erhoben, um erneut in den Kampf zu ziehen. Lilian bedankte sich für ihre Besorgnis, und sie zogen von dannen, überzeugt, dass »die arme Mrs Fraser« dank dieser frei erfundenen Begebenheiten Mut geschöpft hatte.
Captain Wheeler und Captain Lewis aus der Kaserne statteten ihr ebenfalls einen Besuch ab. Sie hatten das Tigerfell dabei, das sie in der Hoffnung mitgebracht hatten, sein Anblick würde Selwyn aufmuntern. Doch der sepoy, der es gegerbt hatte, war weniger bewandert gewesen, wie die beiden Männer einräumten. Sie rollten es auf, was dazu führte, dass Dr. Mossly von dem Gestank nach fauligem Fleisch, Terpentin und Schimmel in seinen Verbandskasten würgte. Die Offiziere rollten es eilig wieder zusammen und behaupteten, ein solcher Geruch sei ganz normal bei gebeizten Fellen und dass er binnen weniger Tage verschwände. Sie ließen es in einem Bündel draußen auf der Veranda liegen. Sobald sie außer Sichtweite waren, ließ Lilian es fortschaffen und verbrennen. Trotz aller Bemühungen Dr. Mosslys ging es mit Selwyn weiter bergab. Sein Gesicht wurde grau, er atmete schwer und magerte immer weiter ab. Lilian saß an Selwyns Krankenbett, seinen Lieblingsfliegenwedel mit dem Elfenbeingriff in der Hand, und schlug nach den Moskitos, die erwartungsvoll über ihn hinschwirrten. Sie betrachtete sein grinsendes Gesicht und die starren Augen und stellte fest, dass sie sich an diesen grässlichen Ausdruck gewöhnt hatte. Doch selbst wenn sie über seinen baldigen Tod nachsann, von dem sie wusste, dass er so gut wie sicher war, empfand sie nicht das Geringste für ihren Mann.
3
Wegen der Hitze und der Luftfeuchtigkeit begrub man Selwyn am Tag nach seinem Tod.
Lilian war nie zuvor auf dem christlichen Friedhof in Kushpur gewesen und war überrascht angesichts der Vielzahl europäischer Grabsteine, von denen die meisten die Ruhestätten von Frauen und Kindern
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