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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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kennzeichneten. In den Pausen zwischen Regengüssen hatte man ein Grab für Selwyn zwischen Mrs Clara Wilbury, der geliebten Gattin von Captain Charles Wilbury, und Mrs Thora Bonhope und ihren drei winzigen Kindern ausgehoben. Mit sechsunddreißig war Selwyn der älteste Mensch, der dort begraben wurde.
    Der Erdboden stand völlig unter Wasser, und die Grube, in die man Selwyn schließlich hinab ließ, hatte sich teilweise mit Wasser gefüllt. Als der Sarg auf den Boden stieß, war er vollständig versunken. Ein beängstigendes, rülpsendes Geräusch erklang, als der Sarg unter die Wasseroberfläche glitt, und ein dünner Streifen Bläschen stieg beständig auf, selbst noch als Mr Rutherford laut aus seinem Gebetsbuch vorlas und eine Handvoll durchweichter Erde platschend in das Loch warf. Währenddessen fiel der Regen unentwegt, rauschend, in das offene Grab.
     
    Die kalte Jahreszeit brachte eine gewisse Erleichterung für die Europäer mit sich. Selwyns Tod war der einzige in dem Jahr gewesen – was nicht der Normalfall sei, sagte Dr. Mossly denjenigen, die sich um Mrs Toomeys Esstisch versammelt hatten, da beinahe immer jemand an Hitzschlag, Ruhr, Malaria oder Flecktyphus verstarb. Noch schlimmer, ihre alte Feindin, die Cholera, wütete gewöhnlich in der Eingeborenenstadt und schaffte es manchmal bis in die Siedlungen der Europäer. »Die Hindus hängen irgendwie der Vorstellung an, wenn man über einem Ochsen betet und ihn dann in den Fluss treibt, bis er ans andere Ufer schwimmt, nähme er die Krankheit mit sich fort«, sagte Dr. Mossly kenntnisreich. »Die Eingeborenen auf der anderen Seite treiben das Tier einfach wieder zurück. Und so geht es in einem fort, und das arme Tier wird hin und her über den Fluss gescheucht, bis es zu schwach ist, um herauszuklettern, und einfach davontreibt.« Er lachte. »Natürlich bringt die Cholera sie weiterhin um, egal, wie viele Ochsen sie in den Fluss schicken. Absurd, nicht wahr?«
    »O ja!«, rief Mr Vine. »Tja, ich habe ihnen wieder und wieder erklärt, dass die Cholera durch Miasma verursacht wird – feuchte Nebel und faulige Luft, eine Atmosphäre, wie sie auf dem Basar vorherrscht, besonders während der Monsunzeit. Aber hören sie auf mich? Natürlich nicht. Eine Woche später sieht man mit an, wie sie noch eines dieser armen Geschöpfe ins Wasser zwingen.« Er schüttelte den Kopf. »Rationale Erklärungen stoßen auf taube Ohren. Man kann die Ignoranz dieser Leute nur bemitleiden.«
    Lilian sah Dr. Mossly an, doch er lächelte und nickte zustimmend. Miasma und faulige Luft? Sie runzelte die Stirn. Vor noch nicht einmal drei Jahren hatte Dr. Snow bei der gefeierten Demontage des Schwengels von der Broad-Street-Pumpe in Soho den Beweis erbracht, dass Cholera eine Krankheit war, die durch Wasser übertragen wurde. Sie entsann sich, wie ihr Vater von der Gesellschaft zur Verbreitung Nützlichen und Interessanten Wissens zurückgekehrt und diese Neuigkeiten berichtet hatte. Solch eine Behauptung, meinte ihr Vater, habe Konsequenzen für die gesamte Wasserversorgung und Kanalisation in England. Sodann hatte Mr Talbot, entschlossen, die Wahrheit dessen in seinem eigenen Haus zu demonstrieren, jede Wasserleitung, jedes Abflussrohr und jede Zisterne im Großen Haus herausgerissen. Alice und Lilian hatten im Zierteich des Treibhauses gebadet und waren gemeinsam durch die Seerosenblätter und Wasserhyazinthen geschwommen. Anschließend hatte Lilian eine Skizze von Alice als Lady von Shalott angefertigt, die in einem »Meer von Blumen« auf der Insel in der Mitte des Teiches ruhte. Ihre feuchten Haare, lehmfarben auf ihrer nackten Haut, hatten sich wie Pflanzenwurzeln um ihren Kopf und ihre Schultern geschlungen.
    »›Ich bin halb krank von Schatten‹«, hatte Alice gesagt und zu ihr emporgelächelt. »Das sind wir beide, nicht wahr? Genau wie die Lady. Krank, weil wir in diesen ›vier grauen Wänden und vier grauen Türmen‹ eingesperrt sind. Trotzdem, zumindest haben wir einander. Wir brauchen keinen ›treuen Ritter‹, denn wir haben einander.«
    Oh, Alice, dachte Lilian jetzt. Ich werde dich vor den Schatten retten. Was nutzen schon Männer, wenn sie uns nur Schmerz und Unglück bringen? Sie sah über den Tisch zu Mr Hunter, dann zu Mr Vine, der sich immer noch über »miasmische Wolken« ausließ. Und sie reden obendrein solchen Unsinn.
    Lilian zögerte. Sollte sie die ätiologische Überzeugung des Friedensrichters in Frage stellen? Hätte Alice

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