Handbuch für anständige Mädchen
sie im Laufe der letzten Monate ertragen hatten. Sie erhob sich und öffnete die Fliegengitter über den Fenstern. Ein kleines Insekt flog herein und landete auf der Tischdecke neben ihrer linken Hand. Sie besah es sich genau. Es schien sich um eine Art weiße Ameise mit Flügeln zu handeln. Doch als es landete, schüttelte es die Flügel ab und ließ sie auf der Tischplatte zurück. Sie sah zu, wie ein weiteres neben einer Schüssel mit Pickles landete und ein drittes und viertes neben und in dem Wasserkrug. Ein anderes zischte und knisterte, als es mitten in die Flamme der Lampe auf dem Tisch stürzte. Auf einmal ahnte Lilian, was als Nächstes käme, und sie rief einem Träger zu, die Fliegengitter wieder an den Fenstern anzubringen. Doch es war zu spät. Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da strömte eine Wolke fliegender Ameisen ins Zimmer. Im Bruchteil einer Sekunde waren sie überall – in ihren Ohren und Augen und Haaren, füllten ihren geöffneten Mund, krabbelten über ihre Hände und ihre Kleidung, und stießen ihre dünnen Papierflügelchen ab, die sich wie Konfettiwehen im Zimmer sammelten. Als Lilian aufsprang, kam eine weitere Plage von ihnen hereingeströmt, löschte die Lampe mit einem Zischen, wobei ihre verkohlten Körper die Luft mit einem ekelhaft süßlichen Geruch füllten. Im Nu waren der Fußboden und die Tischplatte, der Kaminsims, der Teller, von dem sie gerade noch gegessen hatte, mit papiernen Flügeln übersät und wimmelten von eilig umherwuselnden Körpern.
»Schließ die Fliegengitter!«, rief Lilian erneut. »Schnell!« Doch noch während der Ameisenschwarm abflaute, folgte ihm eine andere Seuche. Eine Wolke fliegender Käfer stürzte ihnen hinterher, als verfolgte sie die Ameisen – kleine schwarze brummende Dinger, deren winzige Beinchen Lilians Haut kitzelten, als sie über ihre Handrücken, um ihren Hals und ihre Arme hinabhuschten. Angewidert fegte sie sie fort. Die Käfer verströmten einen schrecklichen Geruch, sodass sie sich die Hand vor den Mund halten musste, als sie aus dem Zimmer stürzte und es den Trägern überließ, sich mit den Fliegengittern, so gut es ging in dem wirbelnden Halbdunkel, abzumühen.
In der Diele bürstete sich Lilian die restlichen Insekten von der Haut und aus den Haaren. Sie erschauerte. Es war gar nicht so sehr die Menge der Käfer als vielmehr ihr Geruch, der ihr Entsetzen verursachte – das und das Kitzeln fallender Flügel und winziger Füßchen … Und dann ertönte ein Schrei hinter der geschlossenen Tür von Selwyns Arbeitszimmer.
Lilian öffnete die Arbeitszimmertür und spähte in die Düsternis. Selwyn befand sich in der Mitte des Raumes, den Fliegenwedel in der Hand, und drehte sich wieder und wieder, umgeben von einem Wirbelsturm aus Ameisen und Käfern. Er war in Hemdsärmeln, da der Abend warm und drückend gewesen war, und das glänzende Weiß seiner flatternden Kleidung schien die Geschöpfe gierig anzuziehen. Eine Lampe war bereits unter der schieren Last des Insektenansturms erloschen, und nun wirkte Selwyns Hemd wie eine weitere, freundlichere Lichtquelle auf sie, ein strahlendes, sich bauschendes Weiß, dem sie nicht widerstehen konnten und das sie umkreisten und auf das sie sich stürzten und an dem sie sich liebevoll festklammerten. Selwyn tanzte inmitten seiner Insektenpeiniger wie ein Derwisch herum, der Fliegenwedel in seiner Hand ruderte durch die Luft. Da fiel Lilian noch etwas auf. Das Gesicht ihres Gatten war starr, unbeweglich in einer grinsenden Grimasse der Qual. Er zuckte und schlug um sich, doch sie konnte sehen, dass seine Bewegungen etwas Unkontrolliertes an sich hatten. Er wirbelte herum, ohne je innezuhalten, mit starrem Blick, ein verzerrtes Grinsen zwischen den Wangen, die vor lauter kriechenden Käfer ganz dunkel waren. Dann fiel er, immer noch zuckend wie eine Marionette, zu Boden. Ameisen und Käfer schwärmten zischend über ihn hinweg wie eine Schicht aus brodelndem Sirup.
Lilian hörte sich um Hilfe rufen. Sie eilte zu ihrem Gatten und fegte das Meer aus Insekten fort, doch sofort kamen weitere an ihrer Stelle, und Selwyn zuckte immer noch unbeherrscht unter Lilians Händen. Mit Hilfe zweier Träger zog sie ihn in die Diele und warf die Tür des Arbeitszimmers hinter sich zu.
Als der Arzt eintraf, war es Lilian gelungen, sämtliche Insekten zu entfernen, und Selwyn war ausgezogen und lag unter einem sauberen Laken auf seinem charpoy. Er wirkte ruhiger, doch seinen Körper durchzuckten immer
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