Handbuch für anständige Mädchen
für einen Vorleger das Fell abgäbe! Oder vielleicht könnten wir ein Sofa damit beziehen lassen. Mrs Birchwoode, Sie sind eine Frau von elegantem Geschmack, was halten Sie von der Idee eines Tigerfellsofas?« Und er redete von den anderen Tieren, die er in Zukunft erlegen würde. Niemandem entging, dass er sprach, als habe er und nicht Lilian den Tiger erschossen.
Die Damen wechselten Blicke. Selwyns Gesicht leuchtete und glänzte vor Schweiß. »›Tiger, Tiger, grelle Pracht‹«, rief er unvermittelt, »›In den Dickichten der Nacht, wes unsterblich Aug und Hand wohl dein furchtbar Gleichmaß band?‹ Furchtbar Gleichmaß, ha, ha!« Er sah Mrs Birchwoode an, die ihm gegenübersaß, und leckte sich die Lippen. »Er war direkt auf mir, haben Sie das gesehen? Genau zwischen meinen Beinen.«
»In der Tat, Mr Fraser.« Mrs Birchwoode beäugte Selwyns glühendes Antlitz argwöhnisch.
Er beugte sich näher. »Würden Sie gern unter einem solchen Tier liegen? Ich gehe jede Wette ein, dass Sie das gern würden.«
»Mr Fraser, ich denke nicht …«
»›Welcher Abgrund, welche Ferne, barg die Glut der Augensterne? Welche Flügel mag er schwingen? Welche Hand das Feuer zwingen? Welche Armkraft konnte dehnen, knüpfen deines Herzens Sehnen.‹« Selwyns Stimme wurde lauter und lauter. Sein Gesicht war hochrot. »›Und als endlich schlug dein Herz, welche Hand der Füße Erz?‹«
»Dr. Mossly«, murmelte Mrs Birchwoode mit gedämpfter Stimme, »ich fürchte, Mr Fraser ist nicht mehr ganz bei Verstand.«
Dr. Mossly kramte in seiner Tasche. Er zog ein kleines Fläschchen hervor und goss ein paar Tropfen daraus in eine Tasse mit Wasser, die er eingeschenkt und Mr Rutherford zu halten gegeben hatte. »Laudanum, um ihn zu sedieren«, murmelte er. »Wahrscheinlich ist es nur der Schock, der ihn ein wenig … durcheinanderbringt. Das und die Hitze, zweifellos. Mrs Fraser? Wenn Sie ihm behilflich wären, das hier zu trinken? Stellen Sie sicher, dass er alles zu sich nimmt.«
Als sie in Kushpur eintrafen, schlief Selwyn. Dr. Mossly und Mr Rutherford halfen, ihn in den Bungalow der Frasers zu tragen. Sie legten ihn auf sein charpoy und machten sich daran, seine Breeches und sein Hemd zu entfernen, die schweißnass waren und mit Staub verdreckt von dem Sturz, als der Tiger ihn unter sich begraben hatte. Sie zogen ihm die Stiefel aus.
»Er hat Glück gehabt, dass er unverletzt ist«, sagte Dr. Mossly, der den Verband an Selwyns Hand löste. Darunter kamen eine leichte Schnittwunde und aufgeschürfte Fingerknöchel zum Vorschein. Dies waren die einzigen Verletzungen, die er davongetragen hatte.
»Halten Sie ihn kühl, wenn es geht, Mrs Fraser«, sagte Dr. Mossly und rieb Selwyns aufgekratzte Fingerknöchel mit Jod ein. »Und verabreichen Sie ihm in zwei Stunden noch eine Dosis Laudanum, damit er sich heute Nacht richtig ausruhen kann. Machen Sie sich keine Sorgen. Morgen ist er völlig wiederhergestellt, Sie werden schon sehen.«
»Captain Forbes hat mir erzählt, Sie hätten ohne zu zögern geschossen, Mrs Fraser«, sagte Mr Rutherford, als sie den Bungalow verließen. »Er hat gesagt, solch eine Treffsicherheit sei ihm noch nicht untergekommen, in all der Zeit auf dem Paradeplatz noch nicht. Es tut mir leid, dass ich nicht dort sein und es mit eigenen Augen ansehen konnte.«
Am folgenden Morgen frühstückte Selwyn herzhaft und machte sich gleich auf den Weg, um dem sepoy, der Zierrat aus dem Tigerfell machen sollte, Instruktionen zu erteilen.
Am siebten Tag nach der Tigerjagd wurde Lilian von dem Geräusch von Regen geweckt.
Im Laufe der letzten Woche hatte sie den Monsun erwartet – die brennenden Winde hatten sich gelegt, und am Himmel hatten sich dicke Wolkenschwaden gesammelt. Doch jeden Tag hatten sich die Wolken, die von den Europäern auf ihren Veranden ungeduldig beobachtet wurden, nach ein paar Stunden wieder aufgelöst. Der Fluss war in seinen rissigen und ausgetrockneten Ufern angeschwollen und lockte Beobachter, den Beweis von Regenfällen und frischen Winden in anderen, nördlicheren Teilen des Landes anzusehen. Doch dann war auch das wieder abgeflaut, und kein einziger Regentropfen war gefallen. Jetzt war die Luft feucht anstatt trocken.
Lilian lehnte sich aus dem Fenster. Der Garten hatte sich bereits in einen Tümpel verwandelt, da der Erdboden zu hart und trocken war, um eine solche Wassermenge in so kurzer Zeit aufzunehmen. Noch während sie zusah, wurde der Regen stärker und ließ
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