Handbuch für Detektive - Roman
mehr. An ihrer Stelle könnten ebenso gut weiße Leinwände hängen oder Fenster angebracht sein, aus denen man auf einen weißen Himmel blickt.»
Eine einfältige, aber potenziell gefährliche Persönlichkeit
, hatte der Mann mit dem blonden Bart getippt,
hohl oder umnachtet.
War es Moore, den er da beschrieben hatte? Was für ein Mensch war das, der sich bemühte, alles zu vergessen, was er wusste? Zweifellos war er ein wenig verrückt. Unwin, dersich an das Gebot erinnerte, seine Worte sorgsam zu wählen, beschloss, vorerst überhaupt nichts zu sagen.
Bald kamen sie in ein breites, kreisrundes Gemach. Unwin kannte es. Licht fiel hier durch ein kleines Fenster oben in der kuppelförmigen Decke und begrub den auf einem Sockel darunter stehenden Glassarg in grauem Schein. Das älteste Mordopfer der Welt war von Schulkindern, die einen Ausflug machten, umringt. Die Mutigeren und Neugierigeren unter ihnen standen ganz nah am Sarg, manche pressten sogar das Gesicht ans Glas. Unwin und Moore warteten, bis ihr Aufpasser, ein gebeugter junger Mann in einem Tweedmantel, die Kinder durchgezählt und die kleine Schar nach draußen geführt hatte. Sobald das Trappeln ihrer Füße verstummt war, vernahm man nur noch das Prasseln des Regens auf dem Fenster hoch über ihnen.
Sie traten näher, und das Quietschen von Unwins Schuhen hallte in dem großen Raum wider. Auf einem in den Boden eingelassenen Schild am Fuße des Sockels stand: DETEKTIV TRAVIS T. SIVART, DER DIESEN SCHATZ AN SEINEN RECHTMÄSSIGEN ORT ZURÜCKBRACHTE, DA MIT ER SEINE LETZTE RUHE FINDET, DRÜCKEN DIE KURATOREN DES STADTMUSEUMS IHREN UNVERBRÜCHLICHEN DANK AUS .
Das älteste Mordopfer der Welt lag zusammengerollt auf der Seite, die Arme über der Brust gefaltet. Sein Fleisch war gelb und schrumplig, doch unversehrt, denn es hatte sich in dem Sumpf erhalten, in den die Leiche vor Tausenden von Jahren geworfen worden war. War es ein Jäger gewesen, ein Bauer, Krieger oder Stammesfürst? Die Augen waren nicht ganz geschlossen und die schwarzen Lippen leicht von den Zähnen zurückgezogen, sodass sein Gesichtsausdruck eher Belustigung als Entsetzen auszudrücken schien. Das Hanfseil,mit dem man ihn erdrosselt hatte, ringelte sich immer noch um seinen Hals.
«Ich habe diese Bezeichnung immer ungenau gefunden», sagte Unwin. «Er mag das älteste Mordopfer sein, das wir entdeckt haben, aber ganz gewiss war er nicht der allererste Mensch, der von einem anderen umgebracht wurde. Vielleicht war er ja sogar selbst ein Mörder. Trotzdem handelt es sich um unseren ältesten Kriminalfall, und noch dazu um einen ungelösten. Wir haben die Waffe, aber uns fehlt ein Motiv.»
Edwin Moore hörte ihm gar nicht zu. Er schaute zur Decke, während Unwin sprach. «Ich hoffe, es ist genug Licht da», sagte Moore.
«Wofür?»
Die Sonne, die zwar teilweise von Wolken verdeckt war, erreichte jetzt das Fenster hoch oben in der Kuppel, und plötzlich wurde es hell im Saal.
«Na bitte», sagte Moore. «Habe ich Ihnen schon gesagt, dass ich mich immer an genau die gleiche Route halte, wenn ich meinen Rundgang mache? Deshalb komme ich auch jeden Nachmittag zur selben Zeit in diesen Saal. Ich glaube, da war eine Frau. Sie wollte meine Aufmerksamkeit auf etwas lenken, auf das hier. Wer war sie? Habe ich nur von ihr geträumt? Ich versuche, Dinge nicht zu bemerken, Herr Detektiv. Ich kenne ein paar Geschichten. Ich kenne die Wochentage. Das genügt, um den Rest auszublenden. Aber schauen Sie, schauen Sie dort. Können Sie es mir verübeln, wenn ich das bemerke?»
Moore zeigte auf den Glassarg, auf die geöffneten Lippen des Toten. Zuerst sah Unwin nichts, nur die verzerrte Grimasse, die Sivart in seinen Berichten als
trauriges, bemitleidenswertes Gesicht
beschrieben hatte,
das lacht, weil es muss –das Antlitz eines Menschen, dem man gerne einen ausgeben würde.
Dann bemerkte er ein Glitzern tief in der Mundhöhle des Mannes, wie die Goldschrift auf einer alten Bibel. Er ging in die Knie, wobei er sich auf seinem Schirm abstützte, und kam dem Leichnam so nahe, wie es gerade noch auszuhalten war. Die Mumie und er spähten sich durch das Glas hindurch an. Dann wanderte das Licht weiter, und der Tote gab sein Geheimnis preis.
In einem seiner Zähne war eine Goldfüllung.
Unwin ließ den Schirm fallen, fuhr erschrocken auf und stolperte über seine eigenen Füße, als er vor der Mumie zurückwich. Er hatte den sonderbaren Eindruck, die Atemluft sei ihm mit dem Schirm entglitten und
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