Handbuch für Detektive - Roman
zutage. Als sie durch das Drehkreuz gingen, hob sie ihre Brotzeitdose in die Höhe. Unwin tat das Gleiche mit seinem Schirm. Seine Aktentasche hatte er in der Wohnung gelassen: Dort war sie sicherer.
Als der Zug einfuhr, schob Emily Unwin in einen leeren Waggon. Er ging auf einen Platz zu, doch sie packte ihn am Arm und zog ihn zu einer Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Mit einer schnellen Bewegung schnappte sie sich den Schirm, rammte ihn wie einen Keil zwischen die Türen und öffnete sie mit Gewalt. Dann gab sie ihm den Schirm zurück und führte ihn auf den gegenüberliegenden Bahnsteig. Sie gingen den schmalen Verbindungssteg entlang, bis sie am Ende auf ein Türchen stießen – der Eingang, dachte Unwin, zu einem Ort, den nur die Angestellten des städtischen Transportunternehmens jemals zu betreten brauchten. Emily nahm das Vorhängeschloss in die Hand, mit der das Türchen gesichert war. «Ich kenne ein paar Zahlenkombinationen», sagte sie und fügte verschämt hinzu: «Für Notfälle.»
Sie drehte ein paarmal die Wählscheibe, und das Schloss sprang auf. Als sie drinnen waren, zog sie das Türchen zu und streckte die Hand durch die Gitterstäbe, um das Schloss wieder einzuhängen. Die Luft hier war kalt und modrig, und Unwin hörte ein leises elektrisches Summen. Sie nahmen eine Treppe nach unten, wechselten an einem Absatz die Richtung. Dabei bewegten sie sich ganz langsam, um ihre Augen an die schummrige Beleuchtung zu gewöhnen.
Schließlich gelangten sie auf einen zweiten Bahnsteig, der unter dem ersten lag. Wasser tropfte aus undichten Rohren in der Decke und sammelte sich in schmutzigen Pfützen zwischen lauter Unrat. Emily machte nur ein paar Schritte und kehrte dann das Gesicht den Gleisen zu. Sie griff nach seinem linken Arm und zog ihn zu sich, bis sie seine Armbanduhr direkt vor der Nase hatte. Der Duft ihres Lavendelparfüms überdeckte fast völlig den Gestank aus den unterirdischen Röhren.
«Der Achter-Zug ist immer pünktlich», sagte sie.
«Sie meinen den A-Zug?»
Emily schürzte die Lippen und sagte dann: «Ich meine den
Achter
-Zug. Schätze, das war in Ihrer Einweisung nicht inbegriffen. Es ist eine alte U-Bahn-Linie, die vor Jahren von der Stadt stillgelegt wurde. Die Agentur hat eine Vereinbarung getroffen. Nur Detektive dürfen damit fahren.»
Er nickte, als wollte er damit sagen, klar, jetzt sei es ihm auch wieder eingefallen.
«Nicht einmal Assistenten dürfen an Bord», fuhr sie fort. «Eigentlich dürften wir noch nicht einmal davon wissen.»
Unwin verkniff es sich, die offenkundige Frage zu stellen.
Die Gleise begannen zu singen, und dann tauchte das Licht des herannahenden Zuges im Tunnel auf. Im Gegensatzzum Bahnhof sah der Zug selbst sauber und gepflegt aus. Langsam kam er am Bahnsteig zum Stehen, und die Türen öffneten sich mit einem Zischen. Unwin stieg ein und schaute dann seiner Assistentin ins Gesicht.
«Es heißt, jeder Detektiv habe ein messerscharfes Verständnis dafür, wie das menschliche Denken funktioniert», sagte sie zu ihm. «Haben Sie ein messerscharfes Verständnis dafür, wie das menschliche Denken funktioniert, Detektiv Unwin? Können Sie mir sagen, was ich in meiner Brotzeitdose habe?»
Er hatte sie auf die Probe gestellt; nun stellte sie ihn auf die Probe. Unwin fragte sich, ob es im
Handbuch für Detektive
eine Passage gab, die ihn auf eine solche Frage vorbereitet hätte. Doch als er sich die Brotzeitdose anschaute, hätte er nicht sagen können, ob es sich um eine Einzelheit oder um einen Hinweis handelte. Schließlich beschloss er zu raten. «Ihre Brotzeit vielleicht?»
Die Türen schlossen sich. Durch das Fenster und hinter ihren dicken Brillengläsern waren Emilys Augen undurchdringlich. Sie stand regungslos an der Bahnsteigkante, als der Zug aus dem Bahnhof fuhr.
Er war der einzige Fahrgast im Waggon – vielleicht der einzige Fahrgast im ganzen Zug. Er suchte sich einen Platz und sah zu, wie die Wände des Tunnels an den Fenstern vorbeiglitten.
Mittlerweile war es sieben Uhr, und an einem normalen Tag wäre er bereits auf dem Weg zum Central Terminal gewesen. Er dachte an die Frau im karierten Mantel. Wartete sie wieder wie gewöhnlich am Bahnsteig vierzehn? Was, wenn die Person, auf die sie wartete, ausgerechnet heute eintraf? Unwin würde sie nie mehr dort wiedersehen, und niemals würde er erfahren, was geschehen war. Wer wardiese Person, die seine Arbeit im vierzehnten Stock übernommen hatte? Die im
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