Handbuch für Detektive - Roman
Tat, öffnet die Tür, und genau da ist sie, die Erinnerung an den Mord, den er erst am vergangenen Dienstag begangen hat.»
Unwin sah sich noch einmal auf dem Weg um, den sie genommen hatten, weil ihn die Unsicherheit bei der Wahl der Richtung, den Lamech bei der Wahl der Abzweigung gezeigt hatte, beunruhigte. Bis dahin hatte der Wächter seine Marschroute ohne Zögern gewählt. Wenn ihm Merkmale seiner Schöpfung nicht vertraut waren, bestand dann die Möglichkeit, dass er sich einem Risiko aussetzte? Hatten sie vielleicht den falschen Weg genommen?
«Seltsamerweise», sagte Lamech, «hat Miss Palsgraves Apparat die Fähigkeit, sich über jene Eigenschaften hinwegzusetzen. Wenn Sie eine Aufnahme studieren, können Sie mehr erkennen als die unmittelbare Perspektive des Verdächtigen: Sie können damit um Ecken lugen, Bücher aufschlagen, unter Betten spähen. Die Maschine scheint wohl auch tiefere Stimmlagen aufzuzeichnen, die aus den verborgenen Schichten des Unbewussten stammen. Sie verfügt über eine Art peripheres Gesichtsfeld und erkennt Dinge, von denen weder der Träumer noch der Wächter glauben, sie könnten sie wahrnehmen. Noch ein Punkt, an dem wir Hoffmann gegenüber im Vorteil sind.»
Unwin, der immer noch über seine Schulter blickte, sah etwas, das ihn erstaunte. Eine Tür öffnete sich, und eine Frau schlüpfte leise auf die Straße hinaus. Sie folgte Lamech im Schutz der Häuser, ein Schatten unter Schatten, so flink wie Regentropfen. Als ein Mondstrahl plötzlich auf ihr Gesicht fiel, erschrak Unwin so sehr, dass er beinahe aufgewacht wäre. Auf dem Bett im dritten Archiv zuckte sein Bein, und seine Füße verhedderten sich in der Decke.
Es war Miss Greenwoods Tochter. Sie hatte den karierten Mantel fest um ihre Taille gegürtet und das Haar sorgfältig unter die graue Mütze gesteckt.
Lamech bemerkte nicht, dass jemand in seinen Traum eingedrungen war. Unwin rief ihm etwas zu, zupfte an seinem Mantel, zeigte auf die Verfolgerin, doch alles vergebens. Die Frau im karierten Mantel folgte ihm nur mit ein paar Schritten Abstand. Unwin war für sie unsichtbar – sie war Teil der Aufzeichnung –, doch sie beobachtete Lamech aufmerksam und hielt nur mehrfach inne, um die graue Mütze über ihrem Haar zurechtzurücken. Unwin dachte:
Sie schläft, es ist die vorletzte Nacht, und in nur wenigen Stunden wird sie zum Bahnhof fahren und ihren Schirm fallen lassen, und ich werde es versäumen, ihn aufzuheben.
Sie näherten sich dem Vergnügungspark. Die Straßen waren in ein milchiges weißes Licht getaucht, und jetzt konnte Unwin deutlich die Musik hören – sie kam von einer Drehleier oder einem Leierkasten. Der Wächter ging um eine Ecke, rieb die Augen und blinzelte ein wenig. Unwin folgte ihm, und die Frau im karierten Mantel kam hinter ihnen her.
«Zum ersten Mal, seit die Agentur die Traumüberwachung als Standardmethode eingeführt hat», sagte Lamech, «haben nicht autorisierte Angestellte der Agentur in Erfahrungbringen können, was wir Wächter in Wahrheit tun. Wenn Sie das hier wirklich sehen, Mr. Unwin, dann sind Sie einer von beiden. Ich bin mir sicher, Sie können sich vorstellen, wer der andere ist.»
Als Unwins Name fiel, wurden die Augen der Frau im karierten Mantel schmal, und sie blickte sich um. Als sie niemanden sah, ging sie weiter, doch in größerem Abstand als zuvor. Also kannte Cleopatra Greenwoods Tochter seinen Namen. Hatte sie denn schon gewusst, wer er war, als sie im Bahnhof ihren Schirm fallen ließ? Irgendwie hatte sie es geschafft, sich als Unterschreiberin zu verdingen und dann eine Beförderung an Unwins Schreibtisch zu erlangen. Doch offenbar war sie sogar dazu in der Lage, in den Traum eines erfahrenen Wächters einzudringen. Cleo mochte um das Wohlergehen ihrer Tochter besorgt gewesen sein, doch Unwin kam es so vor, als könne sich diese sehr wohl um sich selbst kümmern.
«Vor einer Woche», sagte Lamech, «hat jemand meine Ausgabe des
Handbuchs für Detektive
gestohlen und Detektiv Sivart gegeben. Natürlich war er mit dem Buch schon vertraut und kannte es in- und auswendig. Doch etwas war an dieser Ausgabe anders. Sie enthielt ein achtzehntes Kapitel, das sich mit der Technik beschäftigte, die vom Autor als Traumüberwachung bezeichnet wurde. Sivart war wütend. Wieso war ihm diese Technik all die Jahre verwehrt geblieben? Warum hatte ihn nie jemand eingeweiht? Warum hatte
ich
ihn nie eingeweiht? Das war das Allererste, was er zu mir sagte, als er an
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