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Handbuch für Detektive - Roman

Handbuch für Detektive - Roman

Titel: Handbuch für Detektive - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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seltsame Wahl als Organisationsprinzip, fand Unwin. Warum kein Haus oder sogar ein Bürogebäude, da doch im Grunde alles möglich war? Wenn Lamech Türen benutzen konnte, um von einem Traum in den nächsten zu gelangen, warum dann nicht auch Aktenschubfächer?
    Doch hier schien sich der Wächter ganz wie zu Hause zu fühlen; er durchquerte die verschlungenen Seitenwege seiner Phantomstadt mit einer Behändigkeit, die sein Alter und seinen Leibesumfang Lügen straften. Wie schrecklich, dassUnwin ihn nicht davor warnen konnte, was ihm bevorstand. Doch selbst wenn er mit Lamech hätte sprechen können, selbst wenn es ihm gelungen wäre, die Zeit zu krümmen, so, wie die Straßen hier den Raum krümmten, hätte er gar nicht gewusst, was er sagen sollte. Der Motor für die Vernichtung des Wächters lag für Unwin immer noch im Unklaren. Konnte ein Traum einen Mann umbringen? Konnte er ihn erdrosseln, während er dasaß und schlief?
    Ventilatoren rotierten über ihren Köpfen und brachten frische Luft in Gedankengebäude, in denen ungekannte Visionen hausten. Oder auch bekannte Visionen, rief sich Unwin ins Gedächtnis. Für Lamech und seine Wächterkollegen waren diese Träume wie Zimmer, die man betreten, wie Bücher, die man aufschlagen und durchblättern konnte.
    Als stünden Unwins eigene Gedanken plötzlich vor Lamechs innerem Auge, sagte der Wächter: «Nicht jede Observation ist so leicht zu bewerkstelligen wie diejenige, deren Zeuge Sie gerade geworden sind, Mr. Unwin. Meine Frau wünschte sich, dass ich bei ihr bin, deshalb wurde mir Zugang gewährt. Doch einige von diesen Türen sind fest verschlossen oder gar verrammelt. Andere sind so gut verborgen, dass sie nicht entdeckt werden können. Und die träumenden Ichs einiger Weniger sind sogar zu gefährlich, um sie zu betreten. Wir Wächter üben einen gewissen Einfluss auf die Träume gewöhnlicher Schläfer aus, doch die nächtlichen Visionen dessen, der sich in den Methoden der Traumüberwachung auskennt, gehören allein ihm. Sie könnten zufällig an einen solchen Ort geraten und angesichts der Schrecken, die dort auf Sie lauern, verrückt werden, Scheußlichkeiten, die heraufbeschworen werden, um sie mit ihrer vollkommenen Klarheit zu quälen und zu blenden.Denn Sie müssen wissen, ich bin mir sicher, über wessen Methoden ich spreche.»
    Vor ihnen erhaschte Unwin jetzt einen Blick auf ein Stück Landschaft, das anders war als der Rest: einen Fleck aus leuchtend hellem, funkelndem Licht, der die Größe mehrerer Straßenzüge hatte. Die Gebäude in der Nähe spiegelten diesen gleißenden Schimmer, und das Ganze schien anzuschwellen und sich zu dehnen, als würde es atmen. Einen Moment lang dachte Unwin, es sei das Meer – und das Wasser, das immer noch schimmerte, sei direkt aus Sarah Lamechs Traum geflossen und habe diesen Teil der Stadt überflutet. Doch Unwin konnte es ebenso hören wie sehen, und es war nicht das Geräusch der Brandung, das an sein Ohr drang. Eine dröhnende Musik ging von dem Leuchten aus: eine betörende, monotone Melodie.
    Es war ein Vergnügungspark, und Lamech führte sie direkt darauf zu.
    «In den meisten Fällen», fuhr der Wächter fort, «besteht die größte Herausforderung darin, vom Subjekt unerkannt zu bleiben. Um im Traum eines anderen zu existieren – und das ist etwas völlig anderes, als sich einen aufgezeichneten Traum anzuschauen –, muss man
ein Teil
dieses Traums sein. Doch wie kann der Wächter es dann erreichen, nicht entdeckt zu werden? Der Trick besteht darin, sich stets im Schatten des Träumers zu halten und ihm so an die dunkleren Orte seines Ichs, in die Schlupfwinkel und Kriechgänge, in die er selbst auf keinen Fall einmal einen Blick werfen will, zu folgen. Gewöhnlich gibt es viele solcher Stellen.»
    Direkt vor ihnen gabelte sich jetzt der Weg. Lamech blieb stehen und blickte in beide Richtungen. Für Unwin sahen beide Abzweigungen genau gleich aus, wie Spiegelbilder.Sein Führer zögerte, zuckte dann mit den Achseln und wählte den Weg nach links.
    «Dennoch ist der Wächter in seinen Ermittlungen durch das eingeschränkt, was der Verdächtige träumt», fuhr Lamech fort. «Ein Mann träumt vielleicht von einer Schranktür, doch solange er sie nicht öffnet, kann der Wächter auch nicht hineinsehen. Deshalb lernen wir, bei unseren Verdächtigen etwas nachzuhelfen. ‹Möchtest du denn nicht wissen, was da drin ist?›, könnten wir ihm etwa einflüstern. Und der Verdächtige fragt sich das in der

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