Hannah, Mari
kurz auf und las dann weiter. Sein Durchhaltevermögen beeindruckte sie. Sie legte einen Brieföffner zwischen die Seiten und blätterte durch die restlichen Seiten, um zu sehen, wie lange sie noch brauchen würde, bis sie fertig war. Kurz vor der letzten Seite lag ein maschinengeschriebener Bericht. Ihr Blick blieb an einer vertrauten Handschrift hängen, eine schnell hingekritzelte Notiz zu einem Gespräch zwischen Jo und Forsters ehemaligem Jugendgerichtsbetreuer.
»Hank, hör dir das mal an. Jo hat das geschrieben.« Sie begann laut vorzulesen. »Mrs. Forster ist eine tiefreligiöse Frau, und Jonathan verabscheut dies zutiefst. Paradoxerweise hat dieser Hass ihn dazu gebracht, sich im Alter von sechzehn Jahren ein Kruzifix über den Haaransatz tätowieren zu lassen. Eindeutig ein Versuch, seine Mutter zu provozieren, die, wie die Sozialarbeiterin mir erzählte, inzwischen panische Angst vor ihm hat!«
»Ja! Oh, du bist einfach wunderbar!« Gormley wurde regelrecht euphorisch. Er spurtete um seinen Tisch herum, um die Sätze mit eigenen Augen zu sehen. »Vielleicht gibt es doch einen Gott!«
Mit neuem Schwung las Daniels die Notiz noch einmal.
»Das ist auf Religiöses bezogen, kein Zweifel, hat sie angemerkt.«
»Ich sage dir, Kate: Dieser Typ hier lässt Dennis Nielson aussehen wie einen Pfadfinder.«
»Das bezweifle ich nicht. Aber du hast selbst gesagt, er sei ein sadistischer Vergewaltiger. Diese plötzliche Vielzahl von Morden entspricht überhaupt nicht seinem Stil. Unsere Opfer sind alle mittleren Alters, Männer und Frauen. Sie wurden nicht missbraucht. Er erschießt sie einfach und Schluss.«
Gormley sah nicht aus, als würde er sich von seiner Meinung abbringen lassen.
»Glaub mir«, sagte er. »Er ist unser Mann.«
87
Während sie vor dem Psychiatrischen Dienst geduldig darauf warteten, eingelassen zu werden, empfand Gormley eine überwältigende Zufriedenheit darüber, dass sie Forster als möglichen Verdächtigen identifiziert hatten. Seit seinem letzten Besuch hatte jemand unter das Wort WICHSER mit dickem Filzstift SAMENSPENDER GE-SUCHT an die Tür geschrieben.
Mit einem Seitenblick sagte er: »Bist du ganz sicher, dass du das tun willst, ohne vorher mit Jo zu sprechen?«
Die Tür klickte auf, bevor Daniels antworten konnte.
Die Sekretärin wartete hinter ihrem Sicherheitsglas. Sie begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. Daniels erklärte, warum sie hier waren, und stieß dabei auf leisen Widerstand. Aber die Frau machte keinen Ärger, sondern führte sie den Flur entlang, bot ihnen sogar einen Becher Tee an.
Als sie Jos Büro erreichten, blieb Daniels direkt vor der Tür stehen.
Gormley gab ihr eine Sekunde. »Bist du ganz sicher?«
»Ich tu’s einfach, okay? Sie bringt mich um, wenn sie das rauskriegt, aber das ist mein Problem, nicht deins.«
Sie traten ein und schalteten das Licht an.
»Ich nehme den Tisch«, sagte Daniels. »Du fängst mit den Aktenschränken an.«
Sie hatten gerade erst angefangen, als die Tür aufflog und Jo hereinstürmte. Die Raumtemperatur sank schlagartig um einige Grade, während sie zu dritt dastanden und keiner wusste, was er sagen sollte. Sie trug legere Kleidung, Cordhose und Pullover, ihr Haar war nur locker zusammengefasst, so dass einige lange Strähnen lose um ihr Gesicht fielen. Sie war offensichtlich empört.
»Schon mal was von einem Durchsuchungsbefehl gehört?«, fragte sie.
Daniels biss sich auf die Lippe. Nie und nimmer hätte sie erwartet, sie auf solche Weise wiederzutreffen. Sie fragte sich, warum die Frau an der Rezeption sie nicht gewarnt und ihr gesagt hatte, dass Jo tatsächlich im Hause war. Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt. Gormley nahm er seine Hände aus der Schublade, die er gerade durchsucht hatte, entschuldigte sich und ging.
»Na?«, bellte Jo. »Sag mal, was denkst du dir eigentlich, verdammt noch mal?«
»Wir haben einen Durchsuchungsbefehl …«
»Der längst abgelaufen ist, wie du ganz genau weißt!« Jo ging zum Aktenschrank und knallte die Schublade zu. »Findest du nicht, es wäre höflich gewesen, mich vorher anzurufen?«
»Ich versuche seit Tagen, dich zu erreichen.«
Daniels ging auf sie zu, aber Jo wich ihr aus.
»Ich bin nicht in der Stimmung, einen auf nett zu machen, Kate.«
Ein kleines Grinsen trat auf Daniels’ Gesicht. Not ready to make nice war der Titel eines ihrer Lieblingslieder von den Dixie Chicks, das sie immer nach einem Streit gespielt hatten, wenn keine von ihnen
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