Hannah, Mari
herstellen können.
»Ich weiß noch, was du über den Zufall gesagt hast«, sagte Naylor. »Und ich weiß auch, dass du den verfluchten Kerl kriegen willst, der den Priester und das junge Mädchen aus deinem Dorf umgebracht hat, aber ich kann da keine Verbindung erkennen. Ich meine, wenn er jetzt kein Priester gewesen wäre, dann vielleicht.«
»Wenn er kein Priester gewesen wäre, würdest du hier Freudensprünge machen!«
»Genau das will ich sagen, Kate! Sieh mal, wenn wir einen ermordeten Typen mit einem Stethoskop um den Hals gefunden hätten, dann wäre das auch nur bemerkenswert, wenn er ein Klempner gewesen wäre und kein Arzt.«
Daniels wusste, worauf er hinauswollte – natürlich wusste sie das –, aber das hielt sie nicht davon ab, ihren Standpunkt zu verteidigen, bis der Kellner mit dem Essen kam. Sie aßen schweigend, sannen über die Bedeutung ihres Fundes nach – zumindest Daniels tat das. Jetzt, wo die Karte auf ihrem Radar war, klammerte sie sich an die Hoffnung, dass sie irgendwie zu einem Ergebnis führen würde, mit dem sie den Corbridge-Fall abschließen und David und Elsie Short etwas Frieden schenken könnte. Aber klammerte sie sich da nur an einen Strohhalm? Naylor sah, wie sie ihren Teller fortschob, weil ihr der Appetit vergangen war.
»Was denkst du?«, fragte er.
»Tut mir leid, Ron. Dieser Doppelmord geht mir wirklich nah, das ist mir bewusst. Und nicht nur, weil diese Leute aus meinem Heimatort kommen, aber … na ja, weil sie Gerechtigkeit verdient haben und ich ihnen nichts geben kann. Nach all der Zeit wissen wir immer noch nicht, ob Sarah getötet wurde, weil sie einen Mord gesehen hat, oder ob Father Simon ermordet wurde, weil er zufällig dazu kam, als sie in seiner verdammten Kirche vergewaltigt wurde.«
»Ach, Kate.« Naylor streckte die Hand über den Tisch und legte sie auf ihre. Sie waren seit Jahren befreundet, rein platonisch, einfach nur gute Kumpel. »Kopf hoch. Irgendwann kriegst du den, der das getan hat, du weißt, dass du ihn kriegen wirst. Aber es ist doch nicht nur das, oder? Ich hab das Gefühl, da ist noch mehr – was ist los, Kate?«
Daniels seufzte schwer und hob das Weinglas an die Lippen. »Vielleicht brauch ich einfach mal ein paar Tage Urlaub, um meine Batterien wieder aufzuladen, die Dinge wieder im richtigen Verhältnis zu sehen.« Naylor war kein Dummkopf. Daniels konnte sehen, dass er ihr das nicht abkaufte. Sie wechselte schnell das Thema. »Warum hast du eigentlich nie geheiratet, Ron?«
»Ach …« Er hatte aufgegessen, wischte sich den Mund mit der Serviette ab. »Willst du noch einen Nachtisch oder einen Kaffee?«
Daniels schüttelte den Kopf. »Ich muss los.«
»Immer unter Strom, ich weiß.« Er holte seine Brieftasche heraus, konnte die Aufmerksamkeit eines Kellners auf sich lenken und bat um die Rechnung, indem er tat, als schriebe er in seine Handfläche. »Wenn du drüber nachdenkst, hast du gerade deine eigene Frage beantwortet. Ich hab zu viele Beziehungen in die Brüche gehen sehen. Für eine Ehe braucht man zwei und nicht nur einen. Und ich habe die meiste Zeit einfach zu viel zu tun. Das ist meine Entschuldigung, was ist deine?«
Daniels hatte keine. Zumindest keine, von der sie ihm erzählen konnte.
45
Der Minutenzeiger auf dem Zifferblatt der hohen Standuhr aus dem achtzehnten Jahrhundert bewegte sich um einen Strich weiter. Seit einer Dreiviertelstunde las Brown Zeitschriften in dem eleganten Wartezimmer von Graham & Abercrombie, einer Kanzlei in der Grey Street, die manche für Newcastles gelungendstes architektonisches Ensemble hielten.
Brown kannte sich mit Uhren aus; sein Großvater hatte welche repariert. Die, auf die er gerade starrte, war ein schönes Exemplar, so um die zwölftausend Pfund wert. Das Gehäuse war aus Mahagoni gefertigt, mit Messing ausgekleidet, eine typische Acht-Tage-Uhr mit einem Fünf-Säulen-Werk, die jede volle Stunde schlug. Dankenswerterweise hatte sie das erst ein Mal getan, seit Brown hier saß und Däumchen drehte. Aber jetzt war es fast zehn Uhr, und er hatte noch andere Dinge zu erledigen.
Er hatte endgültig genug vom Warten, stand auf und ging zu der Frau mittleren Alters, die hinter dem Empfangstresen auf einer Computertastatur herumtippte. Sie trug eine rosafarbene Strickjacke, die am Hals mit kleinen silbernen Knöpfen geschlossen war. Ihre Gleitsichtbrille saß beinahe auf der Nasenspitze, das Haar war streng zurückgekämmt, der Kopf leicht zu einer Seite geneigt, während
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